Um einen Mann zu bezwingen, bedarf es der Muskelkraft von zwei bis drei würdigen Gegnern. Oder des süßen Lächelns eines Mädchens. In Eamon Mac Guaires Fall brauchte es dafür nicht weniger als ein ordentliches Schiff, eine aufgepeitschte See und einen Sturm, der die Segel von der Takelage riss und mit seiner schneidenden Kraft zerfetzte. Mit einem Arm an den Masten geklammert, die schwankenden Planken unter seinen Füßen, zornerfüllt ins Auge des Orkans blickend, brüllte er, bis er heiser war. Regen klatschte kalt in sein Gesicht, die halblangen Haare zuckten wie Schlangen in dem vernichtenden Luftsog. Blitze schlugen in die meterhohen Wellen um ihn herum ein, die in der Dunkelheit wie Pech schimmerten. Dieses kräftezehrende Ringen mit den Naturgewalten half ihm, wieder zur Besinnung zu kommen. Über zehn Jahre lang hatte er sich in eine Welt zurückgekämpft, die ihm alles genommen hatte.

Der Hafen von Galway lag beschaulich vor ihm, als er den Zweispänner anhielt und sich umsah. Nebel kroch vom Meer her an Land und verhalf dem einbrechenden Dämmerlicht zu einem bühnenreifen Auftritt. Eamon atmete tief ein. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Steel in seinem Brief geschrieben, dass er einem rechtsabgehenden Weg folgen müsse, um sein Ziel zu erreichen. Auffordernd ließ er die Zügel auf die Rücken seiner beiden Pferde schnalzen und lenkte das Gespann in die angegebene Richtung. Galway war ein kleiner Ort, den er bald hinter sich gelassen hatte. Die Straße verlief entlang felsiger Klippen und stieg minimal an. Das Anwesen der Steels lag nicht weit vom Stadtzentrum entfernt und doch abgeschieden.

Als Eamon vor einem herrschaftlichen Landsitz von seinem Wagen sprang, waren Galway und das Meer vom Nebel verschluckt worden. Deshalb blieb dem Ankömmling nur, sich die Umgebung in seiner Fantasie auszumalen, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Die schattenhaften Umrisse ließen vermuten, dass es sich bei Devon Park um ein weitläufiges Anwesen handelte.

Ein Stallbursche kam auf ihn zu und nahm ihm die Zügel ab. „Willkommen auf Devon Park, Sir.“

„Danke.“

Auf dem Weg zum breiten Eingangsportal zupfte er die dunklen Lederhandschuhe von seinen Fingern. Bevor er den Arm heben konnte, um den Türklopfer zu betätigen, wurde die Tür geöffnet. Ein vornehm gekleideter Diener gab ihm den Weg frei und verbeugte sich. „Captain Mac Guaire, wie ich annehme?“

„Korrekt.“

„Bitte tretet ein. Ich werde Euch sofort zum Earl führen.“

Eamon setzte den Hut ab und verstaute seine Handschuhe darin, reichte beides dem Major Domus, der ihm sogleich den Mantel abnahm. Nachdem dieser die Kleidungsstücke des Gastes an einen Diener weitergegeben hatte, wandte er sich dem Kapitän zu. „Wenn Ihr mir bitte folgen würdet?“

„Gerne.“

Sie durchquerten eine hohe Eingangshalle, deren Wände Gemälde längst verstorbener Familienmitglieder zierten. Doch der stattliche Besucher würdigte sie keines Blickes, sondern konzentrierte sich auf das vor ihm liegende Gespräch. Dabei schien es, als würde eine steile Falte auf seiner Stirn diese in der Mitte spalten. Es galt, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn er Steel gegenübertrat. Davon hing alles ab.

„Oh, wundervoll! Mutter, Mutter!“, rief eine weibliche Stimme und ehe der Captain die Situation erfassen konnte, schoss eine junge Dame um die Ecke. Der Diener reagierte, im Gegensatz zu dem achtungsgebietenden Gast, geistesgegenwärtig und sprang zur Seite. Doch Eamon, zu überrascht, war nicht schnell genug und spürte einen weichen Körper, der mit seinem zusammenprallte. Entgeistert schnellten seine Augenbrauen in die Höhe und er musterte eine junge Frau, die vor ihm zurückwich und ihre Augen tastend über seinen Oberkörper aufwärts wandern ließ, bis sie auf seinen Blick traf und diesen verblüfft erwiderte. Der Ansatz ihrer porzellanfarbenen Brüste, welcher von einem spitzenbesetzten Dekolletee eingerahmt wurde, hob und senkte sich aufgeregt.

„Verzeiht, Sir“, murmelte sie und errötete. „Mir war nicht bekannt, dass wir Besuch haben.“

„Es war mein Fehler“, entschuldigte sich Mac Guaire sofort und verbeugte sich höflich. „Eamon Mac Guaire, mit Verlaub.“

„Abbeygail Steel“, lächelte sie verschmitzt.

„Ich freue mich außerordentlich, Eure Bekanntschaft zu machen“, erklärte der große Mann und blinzelte, als ihm bewusst wurde, dass er nach all den Jahren zu guter Letzt aufgespürt hatte, wonach er suchte. Sie war es. Das überschwängliche Temperament, ihr hellbraunes Haar, die dunkelgrünen Augen, die Grübchen, die sich in ihren Wangen bildeten, wenn sie lächelte: Adeen. Er hatte sie gefunden. Endlich. Nach jahrelanger Suche.

Von seinem Blick verunsichert, wich sie weiter zurück und senkte den Kopf.

„Ganz meinerseits“, erwiderte sie eilig und er trat beiseite, damit sie ihren Weg fortsetzen konnte.

Nachdenklich blickte er ihr sekundenlang nach, dann wandte er sich dem Diener zu, der ihren Wortwechsel schweigend verfolgt hatte. Ohne Aufforderung drehte sich der Butler um und sie setzten ihren Weg fort.

„Captain Mac Guaire, endlich lernen wir uns kennen.“

Steel erhob sich schwerfällig aus einem breiten Stuhl, umrundete den imposanten Mahagoni-Schreibtisch und streckte ihm eine Hand entgegen. Eamon griff zu und schüttelte diese, darum bemüht, sich seine Abneigung gegenüber dem Gastgeber nicht anmerken zu lassen. Der Earl hatte Fett angesetzt, was zweifellos das angenehmste Übel an ihm war.

„Es ist überaus freundlich von Ihnen, dass Sie mich empfangen, Lord Ranfurly. Ich habe viel von Euch gehört.“

„Ich hoffe nur Gutes.“

Steel bot ihm mit einer Geste an, sich zu setzen, und der Captain kam der stummen Aufforderung schweigend nach. Nachdem er ihn eine Zeitlang gemustert hatte, meinte der Lord interessiert: „Euer Ruf eilt Euch voraus, Mac Guaire. Ihr besitzt nicht nur die einflussreichste und größte Reederei Irlands, sondern zugleich die sicherste. Wie lautet Euer Erfolgsrezept?“

„Minimales Risiko“, erwiderte Eamon schlicht.

„Aha, das klingt aus Sicht des Befrachters in hohem Maße vernünftig.“

Der jüngere Mann lächelte knapp, doch seine Augen blickten unverändert kalt. „So ist es. Bis jetzt habe ich weder Schiff noch Fracht verloren. Eure Waren sind demnach bei mir in besten Händen. Worum handelt es sich, wenn ich fragen darf?“

Steel stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab und legte die Fingerkuppen aneinander, dabei verengte er die Augen, um sein Gegenüber prüfend zu mustern.

„Um keltischen Goldschmuck. Ich besitze eine Goldmine in Curraghinalt.“

Eamon ließ sich nicht anmerken, dass er davon ausging, zu wissen, woher der Mann das Geld für deren Erwerb genommen hatte.

„Und wohin soll der Schmuck verschifft werden?“

„In die Neue Welt. Nach Nordamerika.“

Der Kapitän lüpfte eine Augenbraue, nickte sinnend.

„Könnt Ihr mir ein lukratives Angebot unterbreiten?“, wollte der Earl mit dem nächsten Atemzug wissen und Eamon lehnte sich im Stuhl zurück. Überlegte und massierte dabei sein kantiges Kinn.

„Nun ja, eine Fracht dieser Güte über eine derart große Distanz zu transportieren, hat seinen Preis.“

„Ich hoffe, einen erschwinglichen.“

Wieder verbarg der Reeder seine Vermutung, dass Geld für den Grundbesitzer eine untergeordnete Rolle spielte. Zweifellos war Geiz der Antrieb des Adligen, welcher ihn dazu bewog, den Preis zu drücken.

„Ich offeriere Euch ein faires Angebot“, erwiderte Mac Guaire nüchtern. „Wie es der Zufall will, habe ich ein Anliegen. Wenn Ihr mich dabei unterstützt, kommen wir mit Sicherheit ins Geschäft.“

„Ihr habt ein Anliegen, Captain? So lasst hören!“

„Es betrifft Eure Tochter Abbeygail.“

„Abbey?“ Überrascht setzte sich der Adlige aufrecht hin. „Woher kennt Ihr sie?“

„Ich begegnete ihr vor wenigen Minuten auf dem Flur.“

Das linke Augenlid des Earls zuckte, während er sein Gegenüber eindringlich musterte. „Ich ahne, welches Ansinnen Ihr an mich stellt.“

„Ihr seid ein schlauer Mann, Mylord. Ja, ich halte um die Hand Eurer Tochter an. Vorausgesetzt, es widerstrebt ihr nicht, mich zum Gatten zu nehmen.“

Steel senkte seine Arme und strich gedankenversunken mit den Fingerkuppen über die glattpolierte Tischplatte.

„Das wird es nicht. Sie ist unsere vierte Tochter und Ihr wärt eine angemessene Partie für sie.“

„Trotzdem würde ich sie gerne, Euer Einverständnis vorausgesetzt, persönlich fragen.“

„Ich werde ein Treffen mit ihr arrangieren. Sprecht am morgigen Nachmittag vor.“

„Vielen Dank.“

Der Earl nickte und tippte mit dem Zeigefinger auf ein vor ihm liegendes Dokument.

„Lasst uns den Vertrag aufsetzen, den wir morgen, nach der Zustimmung meiner Tochter, unterzeichnen können.“

Eamon atmete erleichtert aus und setzte sich wieder aufrecht hin.

„Überaus gerne“, stimmte er zu und verschob die Träume, seine Zukunft betreffend, auf später. Ihm blieben eine ganze Nacht und ein halber Tag, um sich vorzustellen, wie glücklich er mit Adeen werden würde.

„Ihr treibt Euren Spaß mit mir, Vater“, kicherte Abbey am nächsten Vormittag und schüttelte den Kopf. „Wir haben nicht mehr als drei Worte miteinander gewechselt. Er kennt mich nicht.“

„Offenbar hat dies genügt, um ihn von dir einzunehmen. Es ist mir ernst, Kind. Captain Mac Guaire begehrt dich zur Frau und ich finde nichts, was dagegen sprechen würde.“

Das Lächeln auf des Mädchens Gesicht erlosch und es kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe.

„Abgesehen davon kommt er mir, deine Zustimmung vorausgesetzt, geschäftlich deutlich entgegen.“

„Aber er ist nur ein Reeder und außerdem Ire.“

„Ein über die Maßen wohlhabender Werftbesitzer, dem die Welt nicht fremd ist. Obendrein sieht er doch recht manierlich aus, findest du nicht?“

Abbey hob eine Hand und spielte mit einer Locke, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. „Hm“, murmelte sie gedankenversunken. „Wie reich ist er?“

„Ungemein vermögend. Ich glaube nicht, dass du bei ihm Mangel leiden wirst. Vermutlich wird er dich mit Schmuck und Kleidern überhäufen.“

Die Augen der jungen Frau blitzten begeistert auf. „Wird er mit mir während der Saison in London wohnen?“

„Vermutlich. Er ist Geschäftsmann und zweifelsfrei ständig auf der Suche nach neuen Kontakten.“

„Wird er mir ein Schoßhündchen und eine Katze kaufen?“

„Warum nicht? Allerdings solltest du ihn das später selbst fragen.“

Abbey seufzte. „Er sieht nur etwas langweilig aus.“

„Dieser Umstand dürfte sich positiv auf dich auswirken. Vermutlich wirst du deinen eigenen Interessen frönen können und er wird dich nicht an den von dir geplanten Unternehmungen hindern.“

„Oh, tatsächlich?“ Überwältigt vor Freude hob die junge Frau ihre Hand und legte sie über ihr Herz. „Wie wundervoll! Ich werde Gesellschaften geben, Bälle besuchen, mich amüsieren, Kleider bestellen und durch den Park flanieren, ganz und gar, wie es mir beliebt. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.“

Der Earl lächelte erleichtert. „Hör dir an, was er dir anzubieten hat, und wenn er dir nicht gänzlich zuwider ist, erwarte ich, dass du seinen Antrag annimmst.“

Abbeys Mundwinkel hoben sich, sie nickte und knickste. Dann tanzte sie aus dem Raum.

Eamon Mac Guaire war ein ernster Mann, mit stechenden Augen, in denen Wärme aufstieg, wenn sie auf ihr ruhten. Abbey überlegte, wie es zu seiner Gunst ihr gegenüber gekommen war. Die Salontüre blieb offen, als sie nähertrat und ihm die Hand reichte. Er beugte sich galant darüber, berührte sie aber nicht mit seinen Lippen.

„Vielen Dank, dass Ihr mich empfangt“, sagte er freundlich, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte und sie wohlwollend betrachtete.

„Es ist mir eine Freude. Bitte, nehmt Platz.“

Er setzte sich auf einen weich gepolsterten Armsessel und Abbey sank ihm gegenüber auf ein Sofa.

„Nun, ich vermute, Euer Vater hat mit Euch über den Grund meines Besuches gesprochen“, eröffnete der Captain nach einer Minute des verlegenen Schweigens das Gespräch.

„Das hat er“, erwiderte Abbey und eine leichte Röte färbte ihre Wangen. Sie verschränkte die Finger in ihrem Schoß und senkte den Kopf.

„Darf ich, da Ihr mich empfangt, davon ausgehen, dass Ihr meinem Ansuchen gegenüber nicht abgeneigt seid?“

„Das ist korrekt“, flüsterte sie und sah wieder auf.

Er atmete tief ein, lächelte und sekundenlang stockte ihr Herz.

„Möglicherweise sollte ich kurz etwas zu meiner Person sagen?“, schlug er vor und sie nickte. „Gut. Wie Euch gewiss zu Ohren gekommen ist, besitze ich Irlands größte Reederei sowie eine Werft in Dublin. Zehn Jahre lang fuhr ich zur See, die letzten drei in der Position des Captains. Zugunsten der Handelsgesellschaft bin ich sesshaft geworden und befehlige nur mehr sporadisch die Mannschaft eines Schiffes bei einer Überfahrt.“ Sein Blick hielt sie gefangen, als er eine kurze Pause einlegte. „Ich nenne Häuser in Dublin, London, Brighton und New York mein Eigen und wenn Ihr es wünscht, erwerbe ich eines in Galway, damit Ihr Eure Familie, wann immer Ihr es begehrt, besuchen könnt.“

Ungläubig musterte Abbey ihr Gegenüber. Das klang alles zu erfreulich, um wahr zu sein.

„Wenn Ihr Euch dazu entschließt, meine Frau zu werden, verspreche ich, jeden Eurer Wünsche zu erfüllen. An Eurer Garderobe wird nichts fehlen und sie wird durch passenden Schmuck komplettiert. Ich werde Euch jegliche Freiheiten, innerhalb des Rahmens der Schicklichkeit, einräumen und Euch freie Hand bei der Gestaltung Eurer Tage gewähren“, fuhr er fort und ihr Mund öffnete sich ungläubig.

Wo war der Haken? Weshalb begehrte ein Mann wie der Captain, ihr die Welt zu Füßen zu legen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen?

„Wie klingt das für Euch?“

„Ich … ich … bin etwas … überwältigt, gelinde gesagt, und ich frage mich, was Ihr im Gegenzug von mir erwartet.“

Sein Lächeln vertiefte sich, er hob eine Hand und strich mit den Fingerkuppen über den modernen und akkurat gestutzten Backenbart seiner linken Wange.

„Nicht viel, eine Kleinigkeit“, erklärte er und seine Augen verdunkelten sich.

Angespannt setzte sich Abbey aufrechter hin.

„Ich wünsche, dass Ihr mich mit Eames ansprecht.“

Die junge Frau runzelte verwirrt die Stirn. Das war nicht schwer. Er scherzte höchstwahrscheinlich!

„Und wenn Ihr lacht, verlange ich, dass Ihr die Nase kraust.“

„Wie bitte?“

„Die Nase krausen. Könnt Ihr Euch das angewöhnen?“

Das war ein überaus merkwürdiger Wunsch. Probehalber rümpfte sie die Nase und er nickte erfreut. „Genau so. Werdet Ihr mir den Gefallen tun?“

„Natürlich“, murmelte sie und wartete darauf, dass er endlich mit der Bedingung herausrückte, die zu erfüllen, mit Sicherheit einen hohen Preis von ihr erfordern würde.

„Jeden Abend, bevor wir zu Bett gehen, wünsche ich, dass Ihr mit mir tanzt.“

„Ich soll tanzen?“

„Ja, mit mir. Einen Tanz. Jeden Abend.“

Ratlos legte sie den Kopf schief und musterte ihn. Sie wurde nicht schlau aus dem Mann. Doch auch dieser Wunsch war leicht zu erfüllen.

„In Ordnung“, stimmte sie zu.

„Zu guter Letzt werde ich Euch Adeen nennen. Das ist alles.“

„Adeen?“, wiederholte sie verstört.

„Ja. Ihr werdet Euch schnell daran gewöhnen.“

Jede dieser Bedingungen war an sich abstrus, zusammengefasst bereiteten sie ihr latentes Unbehagen. Da sie auf dem Sofa nicht länger stillzusitzen vermochte, erhob sie sich und schritt im Zimmer auf und ab.

„Und sonst verlangt Ihr nichts?“, wollte sie ungläubig wissen.

„Keine weiteren Bedingungen. Das ist alles.“

Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf und es war unmöglich, einen von ihnen fangen und festhalten zu können.

„Kauft Ihr mir ein Schoßhündchen?“

„Wenn Ihr es wünscht, selbstverständlich.“

„Werden wir während der Saison in London wohnen?“

Er runzelte die Stirn und sein freundliches Lächeln erstarb. „Nicht jedes Jahr und wenn, nicht über den gesamten Zeitraum. Aber wir werden eine für beide Seiten zufriedenstellende Einigung finden.“

Das war ein Kompromiss, mit dem sie zu leben vermochte. Womöglich könnte sie ihn ja dazu überreden, sie allein in London wohnen zu lassen, sollte er es vorziehen, die Zeit in einem der anderen Häuser zu verbringen.

„In Ordnung“, murmelte sie und hielt in ihrer Wanderung inne, drehte sich zu ihm und sah ihn an.

Fragend blickte er zu ihr auf und sie entdeckte Besorgnis in seinen Augen.

„Ich nehme Euren Antrag an“, erklärte sie fest und beobachtete, wie Erstaunen, Erleichterung und Freude in schneller Abfolge über sein Gesicht zuckten.

Mit Schwung erhob er sich, trat zu ihr, nahm ihre Hände in seine und sank vor ihr auf ein Knie herab. Er beugte den Kopf und seine Stirn berührte ihren Handrücken.

„Ich danke Euch! Ihr macht aus mir einen zutiefst glücklichen Mann!“

Unbehaglich bemerkte sie, dass er sich nicht bewegte und sie atmete erleichtert aus, als er sich endlich erhob.

„Ihr werdet es nicht bereuen, Liebes“, versprach er gerührt und seine Augen verfingen sich in ihren.

Vorsichtig entzog sie ihm ihre Hände und brachte Abstand zwischen sie.

„Ich werde bei Eurem Vater vorsprechen und alles Weitere mit ihm klären.“

Abbey nickte, er verbeugte sich knapp, verabschiedete sich und ließ sie verdutzt hinter sich zurück.

Die Hoffnung war erstickt, ihr jemals wieder zu begegnen …

Zwei Monate vergingen, in denen sich Abbeys Leben komplett änderte. Täglich probierte sie neue Kleider an, darunter ihr Brautkleid, und wählte die passenden Accessoires aus. Wie versprochen hatte Mac Guaire ein Haus in Galway erstanden und sie übernahm die Aufgabe, dieses, mit Hilfe verschiedener Innenausstatter, einzurichten. In dem riesigen Saal ihres Elternhauses sollte die Hochzeitsfeier ausgerichtet werden und Abbey schwirrte der Kopf von den Entscheidungen, die sie zu treffen hatte. Zum Glück standen ihr ihre Mutter und ihre beiden ältesten Schwestern beherzt zur Seite.

Täglich wurde ein Blumenstrauß geliefert, einer erlesener als der andere, und die junge Braut konnte kaum fassen, wie ausgezeichnet sie es getroffen hatte. Zweifellos war Mac Guaire großzügig – ein angenehmes Merkmal an einem Mann. Bis jetzt hielt er alles, was er ihr versprochen hatte. Deswegen übte sie jeden Tag vor dem Spiegel das Lächeln mit gekrauster Nase und sah darüber hinweg, dabei erwiesen dämlich auszusehen. Doch wenn es ihm gefiel, würde sie ihm diesen Dienst erweisen. Es war ein kleines Entgegenkommen und nicht der Rede wert.

Am Tag vor der Hochzeit reiste Mac Guaire aus Dublin an und ließ sich von seiner jungen Verlobten durch das Haus führen, in welches er im Laufe der folgenden Stunden einziehen würde.

„Es ist tadellos geworden“, strahlte er begeistert und Abbey errötete angesichts seines Überschwanges. „Geradezu brillant! Du hast ein ausgezeichnetes Gespür für ansprechende Arrangements!“

Er griff nach ihren Händen und drückte sie zärtlich, versank in ihrem Blick. „Adeen, du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin!“

Die junge Frau blinzelte und wunderte sich über die winzige Wolke, die sich bei seinem Lob über ihrem Kopf gebildet hatte und einen dunklen Schatten auf sie warf. Es ärgerte sie, dass sie sich von diesem Spitznamen derart aus dem Konzept bringen ließ. Sie erwiderte sein Lächeln und zwang sich, dabei die Nase zu rümpfen. Im nächsten Moment spielte seine Fingerspitze über die kleinen Falten auf ihrem Nasenrücken und sein Lächeln vertiefte sich.

„Wundervoll, du bist geradezu bezaubernd“, lobte er.

Das Räuspern von Abbeys Zofe ließ ihn zurückweichen und er strich sich verlegen über den Ärmel seines Gehrocks. „Verzeihung. Ich habe kurz vergessen …“ Er wandte sich ab, öffnete die Terrassentür und trat ins Freie. Abbey folgte ihm eilig.

„Die Parkanlage ist ausgezeichnet gepflegt“, stellte er anerkennend fest.

„Ja, es ist alles fertig, damit Ihr heute ohne Probleme einziehen könnt“, stimmte sie zu und blieb neben ihm stehen.

Sie hatten nie darüber gesprochen, doch Abbey rechnete damit, die Hochzeitsnacht hier zu verbringen.

„Und für unseren ersten Tanz“, fügte er schwärmerisch hinzu.

„Ja, mein Herr, so ist es.“

Er nickte und einige Augenblicke lang vermittelte er ihr den Eindruck, mit den Gedanken weit weg zu sein. Schon nahm er wieder eine betont aufrechte Haltung ein. „Perfekt. Jetzt werde ich Euch und Eure Zofe nach Devon Park zurückbringen.“

Ein Diener öffnete ihnen die Eingangstür. Schweigend stiegen sie in die wartende Kutsche und Abbey musterte ihren zukünftigen Gemahl unter gesenkten Wimpern. Sein dunkelblondes, halblanges Haar trug er zurückgekämmt, was seinen gepflegten Backenbart blendend zur Geltung brachte. Sein markantes Kinn war rasiert und gewährte einen freien Blick auf seine wohlgeschwungenen Lippen, die zufrieden lächelten. Seine Nase war leicht gebogen, mit einem kleinen Höcker. Doch was ihr am besten an ihm gefiel, waren seine offenen, blauen Augen.

Als spürte er ihre Musterung, blickte er sie an und zwinkerte ihr zu. Verlegen sah sie schnell weg. Insgeheim stellte sie fest, dass sie es viel schlimmer hätte treffen können. Viel, viel schlimmer. Denn, wie es aussah, badete ihre Zukunft in nie verlöschendem Sonnenschein.

Während des Diners in ihrem Elternhaus schwärmte Mac Guaire ununterbrochen von seiner Braut. Es ging so weit, dass es Abbey peinlich wurde. Sie stand gerne im Mittelpunkt, liebte es, gelobt zu werden, doch diese Art der anbetenden Huldigung fand sogar sie übertrieben.

„Bitte entschuldigt die überschwängliche Schwärmerei für meine zukünftige Ehefrau“, bat der Captain am Ende des Abends, da ihm offenbar nicht entgangen war, wie irritierend er sich verhielt. „Es fällt mir schwer, zu fassen, dass ich sie wahrhaftig ab morgen mein Weib nennen darf.“

Milde lächelte man, verzieh ihm, und Lord Ranfurly klopfte ihm sogar verständnisvoll auf die Schultern.

„Ich kann Euch verstehen, Captain. Wenn ein Mann die passende Frau gefunden hat, können die Pferde schon mal mit ihm durchgehen.“

Bevor sich die Herren in den Rauchsalon zurückzogen, verabschiedete sich Abbey von ihrem Bräutigam. Er beugte sich über ihre Hand und sah ihr in die Augen, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. „Wir sehen uns bald vor dem Traualtar, Liebes“, raunte er ihr zu und Abbeys Haut begann zu prickeln.

„Ja“, hauchte sie, „bis morgen.“

Abbey konnte vor Nervosität nicht einschlafen. Sie sah sich in riesigen Ballsälen, umringt von Männern, die sie zum Tanz aufforderten. Beobachtete sich dabei, wie sie voluminöse Kleider vor hohen Spiegeln mit Goldrahmen anprobierte oder beim Tee saß, einen niedlichen Hund auf dem Schoß, den sie gedankenversunken streichelte. Wenn sie an Mac Guaire dachte, wurde ihr Herz dagegen schwer. Obwohl er sie mit Zuneigung und Geschenken überflutete, fühlte sie, dass etwas fehlte. Aber was es war, konnte sich Abbey nicht erklären. Während sie sich zum wiederholten Mal den Kopf darüber zerbrach, schlief sie schließlich in den frühen Morgenstunden ein.

Obwohl sie bereits nach wenigen Stunden geweckt wurde, war Abbey hellwach. Der langersehnte, doch auch ein wenig gefürchtete Tag ihrer Hochzeit war angebrochen. Seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie sich dieses besondere Fest ausgemalt, in dessen Mittelpunkt sie selbst stand, gewandet in ein atemberaubend edles Kleid. Und genau so eines trüge sie bald. Jede Bewegung, die sie machte, würde einen kristallklaren Glitzerregen auslösen, der sie wie eine erlesene Porzellanfigur wirken ließe. Die letzte Anprobe ihres Brautkleides hatte ihr offenbart, dass ihre Erwartungen an diesen Tag weit übertroffen werden würden. Tausend funkelnde Diamanten waren in den Brustteil des Kleides eingearbeitet worden, der Saum des weiten Überrockes, gefertigt aus der feinsten und durchsichtigsten Spitze, die sie jemals gesehen hatte, war ebenfalls mit den teuren Edelsteinen durchwirkt, welche das Licht in schillernde Farben brach. Eamon Mac Guaire hatte es sich nicht nehmen lassen, für dieses Kleid aufzukommen – obwohl es den gängigen Sitten zuwiderhandelte. Er hatte unnachgiebig auf diesem Vorgehen bestanden, bis ihr Vater eingelenkt hatte. Ihr zukünftiger Gemahl war Abbey ein Rätsel, dennoch war sie ihm insgeheim dankbar für diese Gunst, denn zweifellos hätte Lord Ranfurly nicht eingesehen, sein halbes Vermögen in das Hochzeitsgewand seiner Tochter zu stecken. Ohne es zu wissen, hatte der Captain den Mädchentraum seiner jungen Braut erfüllt und Abbey konnte es kaum erwarten, endlich hineinzuschlüpfen. Ihre Geduld wurde hart auf die Probe gestellt, denn zuvor wurde sie gebadet, eingecremt und frisiert. Danach half ihr eine Schar Dienstmädchen in die unteren Kleiderschichten. Bevor sie endlich das Überkleid anziehen durfte, musste sie ihre Nervosität in Schach halten und still auf einem Hocker sitzen, während ihr die Zofe, mithilfe silberner diamantbesetzter Spangen die Haare aufsteckte. Dabei übertraf sie sich selbst. Währenddessen kontrollierte ihre Mutter jeden Handgriff mit Argusaugen und scheuchte ihre Schwestern mit kleinen Aufträgen durchs Haus. Endlich war es so weit und das Oberkleid wurde vorsichtig über ihren Kopf gezogen, an ihrem Rücken geschlossen und zurecht gezupft. Ein kleiner Schleier wurde an ihrem Hinterkopf befestigt – er würde ihr Gesicht, auf Wunsch des Bräutigams, nicht verbergen. Als Abbey vor den Spiegel trat, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Es war perfekt! Perfekter als perfekt. Sie war überzeugt, sogar Englands Königin in den Schatten zu stellen.  Es war ihr unmöglich, wegzusehen. Mit großen Augen musterte sie sich, hob einen Arm und beobachtete, wie die Juwelen das Licht reflektierten. Sie neigte das Haupt und die Diamanten in ihren Haaren funkelten bezaubernd.

„Abbey, es ist Zeit“, sagte ihre älteste Schwester hinter ihr, doch sie vermochte nicht, sich von ihrem Anblick zu lösen. Lady Ranfurly trat neben sie, suchte ihren Blick und nahm sie an die behandschuhte Hand.

„Du bist wunderschön“, stellte sie zufrieden fest. „Enthalte dich deinem Bräutigam nicht länger vor!“

Die Wärme der Hand ihrer Mutter war alles, was sie noch wahrnahm, während sie in ihrem inneren Staunen versank. Es konnte einfach nicht wahr sein. Dies alles: ihr Mann, die Hochzeit, seine Geschenke, seine Aufmerksamkeit, der vor ihr liegende Tag. Womit hatte sie ein solches Glück verdient? Nur nebenbei registrierte sie, dass sie ihre Mädchengemächer an der Seite ihrer Mutter verließ, die sie vor das Anwesen führte. Drei festlich geschmückte Kutschen warteten darauf, die Braut und ihre Damen zur Kirche zu fahren. Noch war die weitläufige Einfahrt bis auf die Wägen leer. In wenigen Stunden würde es hier von Gästen, Dienstboten und Pferdegespannen wimmeln.

Die Glocken läuteten, als sie sich dem Gotteshaus in der Kutsche näherten. Mittlerweile hatte die angespannte Erregung in ihr überhandgenommen und Abbeys Herz stolperte nervös von einem Schlag zum nächsten. Mit jeder weiteren Umdrehung der schweren Räder, befürchtete sie, in Ohnmacht zu fallen. Das edle Gefährt, die Straßen, die Kirche, alles war überschwänglich geschmückt, Blütenblätter lagen auf dem Boden verstreut.

Das Brausen der Orgel, als sie am Arm ihres Vaters das Kirchengebäude betrat, fuhr unter ihre Füße und Abbey gewann den Eindruck zu schweben. Menschen, die sich erhoben und ihr entgegenblickten, ließen sie innerlich vor Nervosität schaudern und gleichzeitig vor Freude darüber, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, erbeben. Nur flüchtig entdeckte sie den andächtigen Gesichtsausdruck einer ihrer Freundinnen. Langsam durchschritten sie den langen, schmalen Gang, welcher das Kirchenschiff teilte, bis sie den Altar erreichten, vor dem Mac Guaire sie erwartete. Er war aufsehenerregend, gewandet in der Uniform eines Kapitäns, welche ihm eine einschüchternde Autorität verlieh.  Seine komplette Aufmerksamkeit galt allein ihr und das erste Mal wurde sie sich seines beeindruckenden Körpers bewusst. Der Gedanke, ihm in wenigen Stunden zu gehören nistete sich als elektrisierendes Prickeln in ihrem Bauch ein. Zum wiederholten Mal streifte sie die Frage, wie es ihr gelungen war, ihn im Bruchteil einer Sekunde für sich zu gewinnen. Als sie ihn erreichte, meinte sie, seine Augen vor Rührung feucht schimmern zu sehen. Nein, das bildete sie sich mit Sicherheit ein! Es gab keine Männer, die zu solch tiefen Gefühlen fähig waren! Die letzten Minuten erschienen der jungen Braut so unwirklich, dass sie immer mehr davon überzeugt war, zu träumen. Zweifellos würde sie jede Sekunde aufwachen.

Der tranceähnliche Zustand fiel erst von ihr ab, als sie die Kirche an der Seite ihres Gemahls verließ. Wenige Augenblicke später saß sie ihm gegenüber in der Kutsche, die sie nach Devon Park brachte. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Hochzeitsgäste, welche aus der Kirche strömten, ihre Kutschen besteigen, um das Brautpaar in einem feierlichen Zug, den das Gefährt der Mac Guaires anführte, zu begleiten. Auf dem gräflichen Anwesen war bereits alles für den Empfang und die nachfolgende Feier vorbereitet.

Des Captains Aufmerksamkeit ruhte ununterbrochen auf seiner jungen Gemahlin. Da beugte er sich plötzlich vor, rahmte ihr Gesicht mit seinen Händen ein und zog sie näher. Abbeys Puls begann zu rasen. Jetzt würde er sie küssen. Oh, wie es sich wohl anfühlte, seine Lippen auf ihrem Mund zu spüren? Sie schloss die Augen, während er sich ihr langsam näherte. Sie konnte fühlen, dass er nur mehr einen Hauch von ihr entfernt war, und öffnete ihren Mund einen Spaltbreit. Seine Lippen waren warm und sanft, als sie sich zärtlich auf ihre Stirn drückten.

Abbey blinzelte und wich verwundert zurück, als er sie freigab. Wieso hatte er sie nicht auf den Mund geküsst? Wünschte er, jegliche Intimitäten auf später zu verschieben, diese für die erste Stunde aufzuheben, die sie zu zweit in ihrem neuen Haus verbrachten?

Verwirrt musterte sie ihn, doch er schien nichts von ihrer Ratlosigkeit zu bemerken, denn er lächelte sie unverändert freundlich an.

„Endlich bist du wieder bei mir, Adeen. Da, wo du hingehörst“, erklärte er inbrünstig und Abbey schauderte. Sein Verhalten war äußerst seltsam und für den Bruchteil einer Sekunde war er ihr unheimlich. Um sich zu beruhigen, strich sie mit den Handflächen über ihre Oberarme.

„Frierst du, Liebes?“

„Nein, Mr Mac Guai…“

„Eames.“

Sie räusperte sich. „Mir ist nicht kalt, Eames. Ich bin etwas nervös.“

„Doch nicht etwa meinetwegen?“

„Wegen Euch, der Hochzeit, den unzähligen Gästen und meinem neuen Leben.“

„Hm, das ist in der Tat eine Menge auf einmal“, stimmte er zu und lächelte mitfühlend. „Aber du bist stark, du wirst es bewältigen.“

„Woher wisst Ihr …“

„Du.“

„Woher weißt du, dass ich stark bin? Du kennst mich nicht.“

Er lachte auf. „Oh doch, ich kenne dich! Besser, als du dich selbst, mein kleines Feuer. Das ist dein Name, und eine Feuersbrunst vermag das größte Hindernis zu bezwingen.“

„Aber ich heiße nicht …“

„Ich erinnere mich an jeden Moment, den wir miteinander geteilt haben“, fuhr er ungerührt fort. „Wir werden alles wiederholen und Neues schaffen. Adeen, du und ich, wir gehören zusammen.“

Die Kälte in Abbey wurde immer unerträglicher und ließ ihre Hände zittern. Das, was er sagte, ergab keinen Sinn. Hatte er verdrängt, dass sie nicht jene Frau war?

„Schenke mir dein Lächeln, Liebes, komm, erweise mir die Freude!“

Abbey biss die Zähne zusammen, während sie mit sich rang. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln.

„Die Nase“, erinnerte er sie und Abbey krauste diese.

Eine Bewegung, die sie jetzt schon aus ganzem Herzen hasste. Wen erblickte er vor sich, wenn er sie anschaute? Sie wurde immer sicherer, dass es nicht sie war.

Nachdem sie ihn, ihres Erachtens, lange genug angelächelt hatte, wandte sie sich ab und starrte aus dem Fenster. In dem Moment fuhren sie auf den Hof von Devon Park und die junge Braut hatte den Eindruck, die Blumen leuchteten nicht mehr so kräftig, wie zuvor.

Er hielt ihre Hand. Die ganze Zeit, wenn es sich nicht vermeiden ließ, verschränkte er seine Finger mit ihren und es gab kein Entkommen für sie. An seiner Seite lauschte sie gefühlt tausenden Menschen, die irgendetwas erzählten, was Abbey nicht interessierte. Wie ihr auffiel, sprach Eames kaum. Dafür hörte er den Berichten seiner Gäste mit Engelsgeduld zu. Die junge Braut befürchtete, jede Sekunde einzuschlafen. Obwohl der Rahmen dieser besonderen Feier, ihre Erwartungen bei weitem übertroffen hatte, erstarb ihre Freude mit jeder weiteren Minute. Es war ihr unmöglich eine Erklärung dafür zu finden, weshalb ihr das Glück zwischen den Fingern zerrann. Äußerlich strahlte sie wie ein wertvoller Schatz, doch in ihrem Inneren dehnte sich bittere Enttäuschung aus.

Als die Musiker endlich zum Tanz aufspielten, führte Eamon seine junge Braut auf die Tanzfläche. Abbeys Haut prickelte, als er ihre Hand in seine nahm, obwohl der feine Stoff ihrer Handschuhe eine intimere Berührung verhinderte. Seine Wärme nahm sie erneut gefangen als gäbe es dieses hauchzarte Hindernis aus Stoff nicht und lenkte sie von ihrer Trübsal ab. Als sein anbetender Blick sekundenlang in ihren Augen versank, befürchtete sie, ihre Knie würden unter ihr nachgeben und sie würde vor allen Anwesenden zu Boden stürzen. Ein Glück, dass sein Griff fest war und ihr das Gefühl vermittelte, dass er sie auffangen würde, egal, was geschähe. Leider gestattete die Schrittfolge des Menuettes nur selten einen Blickwechsel, meistens schritten sie nebeneinander im Kreis oder vollführten eine Drehung. Mit ihm zu tanzen, übertraf ihre schönsten Fantasien, sodass sie sich für ein paar süße Minuten wie auf einem Fest in einem Märchen, kurz nachdem der Drache getötet und das Böse besiegt worden war, wähnte. Doch als die Melodie verstummte, verpuffte der Zauber schneller, als er gekommen war, denn Eamon gab seine Braut schon nach diesem ersten Tanz frei. Sie blinzelte, als sie sein Vorgehen zu verstehen versuchte, und kämpfte darum, die Enttäuschung, die sich wie ein brutaler Schlag auf ihren Brustkorb anfühlte, niederzuringen. In ihren Träumen hatte ihr Bräutigam während der ganzen Nacht mit ihr getanzt und wenn sie doch eine Pause einlegten, war er nie von ihrer Seite gewichen. Abbey mied Eamons Blick und schluckte die Tränen hinunter. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass er ihr nachsah, als sie sich mit einem Tanzpartner entfernte. Der Aufprall in der Realität verwundete Abbey schwer, deswegen war sie umso dankbarer für die Ablenkung durch wechselnde Tanzpartner und es gelang ihr bald, den Anlass des Festes zu vergessen und den Captain aus ihren Gedanken zu verbannen.

Es war weit nach Mitternacht, als er sie von der Tanzfläche holte und bat, sich zu verabschieden. Beklommen tat sie, wie geheißen, und fand sich Augenblicke später in seiner Kutsche wieder, die sie in ihr neues Haus brachte.

Während der gesamten Fahrt ruhten seine Augen auf ihr und Abbeys Unbehagen steigerte sich. Ihr schien, als tastete er jeden Zoll ihres Leibes andächtig ab und sie war dankbar für die unzähligen Schichten ihrer bräutlichen Garderobe. Ihr graute vor jenem Moment, zu dem sie diese abgelegt haben würde, um schutzlos vor ihn zu treten. Wie sie wohl empfände, wenn er sie mit den Fingerspitzen berührte, ihr Kinn anhob und sie herrisch küsste? Die Tatsache, ihm zu gehören und seinem Begehren ausgeliefert zu sein, berauschte ihn zweifellos. Ach, wäre diese besorgniserregende Nacht doch längst vorbei!

Als die Kutsche hielt, befürchtete sie, dass ihre Beine unter ihr wegbrechen könnten. Eamon gewahrte ihre Schwäche, als gäbe es nichts auf der Welt, was ihm wichtiger war, als ihr Wohlergehen. Hilfsbereit bot er ihr seinen Arm und stützte sie zuvorkommend.

„Du bist müde“, stellte er mitfühlend fest und führte sie ins Innere.

Der Diener verschloss hinter ihnen die Tür.

„Ja, das ist wahr.“

„Du darfst dich bald zurückziehen. Es gibt, wie dir bekannt ist, eine einzige Sache, die wir zu erledigen haben, und ich hoffe, dass du bis dahin durchhältst.“

„Ja“, hauchte sie und wich beschämt seinem Blick aus.

Ihre Mutter hatte ihr gegenüber steif und widerwillig die zu erwartenden Vorgänge im Ehebett angedeutet und damit die Lage verschlimmert, nicht entspannt.

„Komm!“ Sanft zog er sie mit sich die Treppe in den oberen Stock hinauf und Abbey wurde zum ersten Mal mit aller Konsequenz bewusst, dass sie ihren Gemahl nicht kannte. Die Erkenntnis, nicht dazu bereit zu sein, mit ihm das Bett zu teilen und ihm zu gestatten, sie anzufassen, erfüllte sie mit Entsetzen. Die letzten Wochen waren rasend schnell vergangen. Sie hatte ihn, seit sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte, dreimal gesehen. Das war zu wenig, um ihm zu vertrauen! Himmel, sie würde kreischen, wenn er sie auch nur mit einer Faser seines Leibes berührte. Um nicht sofort loszuschreien, biss sie die Zähne fest aufeinander.

Mac Guaire stieß eine Tür auf und Abbeys Körper erstarrte. Er schien es nicht zu bemerken, denn er zog sie unbeirrt weiter und schloss die Tür ab. Panisch vor Angst erkannte die junge Braut, dass sie sich im Privatsalon des Hausherren befanden. Die davon abgehende Tür führte in sein Schlafgemach. Sie ballte eine Hand zur Faust und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an.

Nein, nein, bitte nicht! Bitte, bitte nicht!

Da blieb er stehen, drehte sich zu ihr und umfasste sie an der Taille. Panisch hielt sie die Luft an, kurz davor, ihn anzuflehen, Gnade walten zu lassen. Sanft zog er sie näher, bis ihre Hüften einander berührten. Nie zuvor war ihr ein Mann so nahe gewesen. Die überwältigende Präsenz seines kraftvollen Körpers bewirkte, dass sie sich als vollkommen hilflos empfand. Er hatte die Macht, mit ihr zu verfahren, wie es ihm beliebte, und niemand würde ihr zu Hilfe eilen.

Da hob er eine Hand und sie zuckte zurück. Doch er führte aus, was er plante und drückte ihren Kopf an seinen muskulösen, breiten Brustkorb. Abbey befürchtete, auf der Stelle zu sterben. Ihr Oberkörper hob und senkte sich in schnellen Stößen und stieß die weiche Fülle ihrer Brüste gegen seine Rippen.

„Fürchte dich nicht, Liebes“, flüsterte er und kitzelte sie mit der Berührung seines Mundes am Scheitel. „Du bist wieder bei mir. Das ist alles, was zählt.“

Nein, schrie es in ihr, ich kenne dich nicht! Bitte, hab Erbarmen und gewähre mir etwas Zeit, um mich an dich zu gewöhnen! Du bist mir viel zu nahe, ich vermag damit nicht umzugehen! Bitte, bitte, sieh ein, dass ich nicht Adeen bin, sondern Abbey, ein Mädchen, das noch nie einen Mann erkannt hat!

Träge begann er sich zu wiegen und sie schloss hoffnungslos die Augen. Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass er anhob, eine alte und traurige irische Weise zu singen. Seine Stimme war tief und überraschend angenehm und vibrierte in seiner Brust. Auf ihrer Wange.

The water is wide, I cannot get o’er.

And neither have I the wings to fly.

Build me a boat that can carry two,

and both shall row, my love and I.

O love is handsome and love is fine

and loves a jewel while it´s new

But love grows old and waxes cold

and fades away like the morning dew.[1]

Während er sie in den Armen hielt und sich langsam mit ihr zu der gefühlvollen Melodie drehte, beruhigte sie sich. Zaghaft legte sie eine Hand auf seine Brust, den anderen Arm schlang sie scheu um seine Taille. Nach all dem Trubel, ihrem inneren Tumult und der übermächtigen Verzweiflung, hatte er ihr unverhofft einen friedlichen Ort erschaffen. Als er alle Strophen gesungen hatte, löste er sich von ihr, sein Blick war verhangen und sie vermutete, dass er sich gedanklich an einem fernen Ort, womöglich in einer anderen Zeit aufhielt.

„Gute Nacht, Adeen“, murmelte er.

„Gute Nacht, Eames“, erwiderte sie erleichtert, da er nicht länger auf ihrer Anwesenheit bestand.

Sie eilte zur Tür, welche in ihre Gemächer führte, und drehte sich, einer inneren Eingebung folgend, ein letztes Mal zu ihm um, bevor sie diese hinter sich zuzog. Mac Guaire stand reglos inmitten des Zimmers und wirkte einsamer, als alle Menschen, die sie jemals gesehen hatte.

Ihre Zofe weckte sie am späten Vormittag, beladen mit einem überfüllten Tablett, auf dem auch ein Blumenstrauß in einer Vase stand.

„Der Captain hat darauf bestanden, Euch all dies anzubieten“, stöhnte sie und stellte es auf dem Nachttischchen ab. „Er nimmt offenbar an, dass Ihr gefräßig seid.“

Abbey kicherte, setzte sich auf, streckte sich und gähnte hinter vorgehaltener Hand, wobei sie das Frühstück begeistert musterte.

„Toast und Marmelade und Butter und Gebäck“, zählte sie voll Vorfreude auf. „Schokoladenkuchen, sehen Sie sich das an, O’Brian! Und Pralinen! Himmel, ist das tatsächlich wahr? Und Tee und Kaffee – beides!“

„Ja, Mrs Mac Guaire, und Honig ist ebenfalls hier, und Lemon Curd und Scones.“

Abbey strahlte und fuhr sich über den Bauch. „Oh, wie wundervoll es ist, verheiratet zu sein. Da ich einen Gemahl habe, darf ich essen, was ich möchte.“

Die Zofe hob missbilligend die Augenbrauen. „Jetzt erst recht nicht! Es sollte Euer oberstes Ziel sein, ihn nicht zu verlieren. Dabei gilt es darauf zu achten, den Gatten nicht mit dem Körperumfang zu überrollen.“

„Pah, wie gemein“, schmollte die junge Frau, beugte sich vor und griff nach einem Scone, das sie in Marmelade eintauchte. „Er hat mir diese beeindruckende Auswahl geschickt. Demnach will er, dass ich alles davon esse. Es wäre unhöflich, die Hälfte zurückgehen zu lassen.“

„Ein Mal wird nicht schaden“, gab O’Brian nach und seufzte. „Doch morgen gibt es wieder das Übliche: Ein Schälchen Porridge.“

„Igitt“, maulte Abbey. „Kommen Sie mir nicht damit! Der Brei quillt schon aus meinen Ohren. Ich bin jetzt verheiratet. Ich esse in Zukunft Toast.“ Sie biss ab und kaute genüsslich. „Mmh, köstlich.“ Dann deutete sie auf die Blumen. „Ein wahrhaft bezaubernder Strauß. Ich vermutete, mein Mann würde diese Gewohnheit nach der Hochzeit einstellen. Weit gefehlt.“

„Der Captain ist ein Gentleman!“, schwärmte die Dienerin und hielt sich eine Hand übers Herz.

„Oder ernsthaft verloren“, merkte Abbey an, tunkte das Scone in die Marmelade und biss wieder davon ab. „Hat er etwas zu dem heutigen Tagesablauf gesagt?“

„Nein, außer, dass er informiert werden möchte, wenn Ihr wach seid.“

„Heißt das, er weiß, dass ich momentan esse?“

Die Mundwinkel der Zofe zuckten amüsiert. „Anzunehmen.“

Abbey kicherte, schob die Füße über den Bettrand und griff nach der gefüllten Kaffeetasse. Kostete, verzog den Mund. „Puh, ist das bitter. Schnell ein Schluck Tee auf das hinauf.“ Sie stellte die eine Tasse ab und nahm die andere. „Erheblich besser. Tausendmal besser als dieses europäische Gebräu!“

Die Zofe wandte sich ab und verschwand im angrenzenden Ankleidezimmer. „Wollt Ihr einen Morgenmantel überziehen, Mrs Mac Guaire?“

„Wozu?“, rief die junge Frau zurück und betrachtete eine Praline, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt hatte, voller Vorfreude.

„Nun, Ihr müsst jederzeit damit rechnen, dass …“

In dem Moment klopfte es an der Tür und Abbey konnte sich die Antwort selbst geben. Doch jetzt war es zu spät.

Während O’Brian den Satz beendete: „… Euch Euer Gemahl aufsucht.“, trat ebendieser ein und die junge Frau kroch eilig zurück unter die Decke und zog diese bis zum Kinn empor, wobei sie sich fast an dem Konfekt verschluckte. Sie hustete und bemerkte, dass ihr Mann sie sorgenvoll betrachtete, als er näherkam.

„Ist alles in Ordnung, Liebes?“

„Ja, hust, hust“, keuchte sie und klopfte sich mit der Faust auf die Stelle oberhalb ihrer Brust. „Das war die Praline.“

„Oh.“ Betroffen setzte er sich an den Bettrand und betrachtete sie.

„Es geht schon wieder“, beruhigte sie ihn, da er von der Situation überfordert zu sein schien.

„Fein.“ Seine Augen ruhten nach wie vor auf ihr und Abbey wünschte, im Boden versinken zu können. Sie fühlte sich wie ein seltener Kunstgegenstand, den man ausgestellt hatte.

„Vielen Dank für das delikate Frühstück und die Blumen“, sagte sie, um ihn abzulenken.

Eamon fuhr bei ihren Worten zusammen, als erinnerte er sich einer Sache und tastete sogleich mit einer Hand seine Gehrocktasche ab. Dann zog er ein schmales Kästchen hervor und reichte es ihr. „Bevor ich es vergesse, das ist für dich.“

Überrascht nahm sie die Schatulle entgegen und öffnete sie. Ein kostbares, fein gearbeitetes Armband, dessen Edelsteine im Licht blitzten, lag auf dunklem Samt.

„Es ist atemberaubend“, seufzte sie begeistert. „Oh, es ist wunderschön! Du verwöhnst mich, Eames.“

Während sie das Federbett vor ihre Brust hielt, kniete sie sich hin und beugte sie sich zu ihm. „Ich danke dir!“

Scheu drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange, dabei stach sein Bart in ihre Lippen und ergänzte ihre sanfte Geste mit einem Hauch männlicher Rauheit.

„Nicht der Rede wert, Liebes.“

Er umschloss ihren Oberarm, als sie sich zurückziehen wollte und hielt sie fest. Deshalb vermochte sie sich nicht hinzusetzen und spürte die Wärme seines Körpers deutlich an ihrer Brust. Ihr Puls beschleunigte sich, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. War es aufsteigende Angst oder ein anderes, unerklärliches Gefühl?

„Schenke mir ein Lächeln“, bat er sehnsüchtig und sie verzog die Lippen und krauste die Nase.

Mit seiner freien Hand strich er darüber und seufzte. „Du bist reizend, Adeen, ist dir das bewusst? Das schönste Mädchen Irlands.“

„Nur Irlands?“, schmollte Abbey.

„Nein, des gesamten Königreichs, des Erdkreises. Keine kommt dir gleich!“

„Eames, du bist ein Poet!“

Er lachte leise und lockerte den Griff. Sie ließ sich zurücksinken und streckte ihre Beine wieder unter der Decke aus.

„Liebes, ich würde dir die Sterne vom Himmel holen, wenn ich könnte“, gestand er ernst.

„Oh, das ist kitschig“, winkte Abbey ab und verzog den Mund. „Was haben wir heute vor?“

„Das liegt an dir. Was möchtest du unternehmen?“

„Darüber habe ich nicht nachgedacht.“

Sie legte einen Finger an ihre Lippen und klopfte nachdenklich darauf. „Wir könnten einen Strandspaziergang machen oder ausreiten.“

„Du reitest nicht, Adeen“, ließ er sie wissen.

„Nein?“ Abbey zog die Augenbrauen zusammen und eine steile Falte bildete sich auf ihrem Nasenrücken. „Wie kommst du darauf? Ich bin eine ausgezeichnete Reiterin. Seit ich fünf Jahre alt bin, sitze ich im Sattel.“

Seine Gesichtszüge verhärteten sich. „Du bist nie geritten und jetzt ist der ungünstigste Zeitpunkt, um damit zu beginnen. Ich verbiete dir, Kopf und Kragen bei einem derart leichtfertigen Unterfangen zu riskieren.“

Abbey verschränkte wütend die Arme vor der Brust. „Ich kann es nicht mehr hören! Obwohl du mich wie diese Frau nennst, von der ich nichts weiß, bin ich doch nicht sie. Ich hoffe, das ist dir klar, Eamon.“ Bewusst nannte sie ihn bei seinem Geburtsnamen.

„Eames. Wir haben vereinbart, dass du …“, unterbrach er sie ausdruckslos.

„Eames. Von mir aus! Trotzdem sehe ich nicht …“

„Du reitest nicht. Ich verbiete es.“

Sekundenlang blickte sie ihn entsetzt an. „Du hast versprochen, dass ich anstellen kann, was ich will.“

„Ja, insofern dies nicht gefährlich ist und gegen die guten Sitten verstößt.“

„Ich bestehe darauf, heute auszureiten!“

„Adeen, sei nicht so störrisch! Das kann doch nicht wahr sein! Dein Verhalten ist inakzeptabel. Ich bin dein Gemahl und ich habe meine Meinung …“

„Ich will ausreiten. Heute! Komm mit mir!“

Entgeistert musterte er sie und sie meinte zu erkennen, dass er überlegte, wie es zu dieser offenen Rebellion gekommen war. Er schüttelte den Kopf, als wollte er sich der Realität entledigen.

„Meinetwegen“, seufzte er und sie unterdrückte einen Jubelschrei. „Aber wir werden es langsam angehen.“

„Ja, ja.“

Sein Blick wanderte zum Tablett. „Darf ich dir etwas reichen?“

„Den Schokoladenkuchen bitte.“

Er langte nach dem Teller und hielt ihr diesen hin.

„Danke.“ Mit spitzen Fingern nahm sie den Kuchen auf und biss hinein. „Du hast eine ausgezeichnete Köchin!“

„Vielen Dank für das Kompliment. Meine reizende Gemahlin hat sie eingestellt.“

„Stimmt“, kicherte Abbey. „Ich beglückwünsche Euch zu Eurer Gattin.“

Er lachte auf und erhob sich. „Ja, sie war ein Glücksgriff. Wenn du fertig für unseren Ausflug bist, komm in den unteren Salon. Ich werde dich dort erwarten.“

„Ja, Captain.“ Sie lächelte ihn schelmisch an.

„Die Nase“, erinnerte er sie und sie rümpfte diese genervt.

„So muss es sein“, erklärte er und verließ den Raum.

Das Pony wirkte neben Eames’ gewaltigem Hengst wie eine Miniaturfigur aus Zuckerguss auf einer französischen Torte. Ungläubig musterte sie das kleine Tier, welches reglos an der Seite seines imposanten Kameraden stand und darauf wartete, ins nächste Abenteuer aufzubrechen.

„Eames, ich weigere mich, auf einem Hottepferdchen zu reiten“, erklärte sie entschieden.

„Dann werden wir alternativ spazieren gehen, wie wir es ursprünglich vorgehabt haben“, erwiderte er ungerührt.

„Wenn ich das Pony nehme, wird jeder annehmen, ich sei deine Tochter“, gab sich Abbey nicht so leicht geschlagen, doch er zuckte gelassen mit den Achseln.

„Entscheide dich jetzt. Ponyreiten oder Spazierengehen.“

„Du machst mich verrückt!“, schimpfte die junge Frau und tat, als griffe sie nach den Zügeln des kleinen Reittiers, machte aber einen flinken Satz, umschloss die Zügel des Hengstes, während sie gleichzeitig auf die Aufsteighilfe sprang, und schwang sich blitzschnell in den Sattel. Der Captain begriff erst, was sie getan hatte, als sie bereits vom Hof galoppierte.

„Halt, Adeen, bleib stehen!“, brüllte er zornig und wirbelte herum. „Bring mir ein Pferd!“, fuhr er einen jungen Stallknecht an. „Sofort! Ohne Sattel!“

Ihm schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, bis der Knabe endlich mit einem anderen Tier vor ihm auftauchte. Behände saß er auf und setzte seiner Frau in gestrecktem Galopp durch die weitläufige Parkanlage nach. Verdammt, wohin war sie nur geritten?

Abbey lachte gelöst, denn das Pferd trug sie in hohem Tempo über Wiesen, kleine Büsche und winzige Rinnsale. Oh, war sie froh, diesen Angsthasen von einem Mann abgehängt zu haben. Was lief nur falsch bei ihm? Dass er nicht alle Tassen im Schrank hatte, dürfte niemandem entgangen sein. Bald hatte sie den Park hinter sich zurückgelassen und erreichte den tosenden Ozean. Wasser spritzte auf, als sie entlang des Saums von Meer und Ufer ritt. Mittlerweile hingen die Wolken tief und vermischten sich mit aufsteigendem Nebel. Mit jedem Meter, den sie hinter sich ließ, wurde die Sicht schlechter.

„Adeen!“, hörte sie den Captain ihren Namen rufen. „Adeen, wo bist du?“

Er klang aufgebracht, aber zugleich zutiefst beunruhigt. Mitleid überkam sie und sie zügelte ihr Pferd, drehte sich in seine Richtung.

„Ich bin hier!“, rief sie und hörte im nächsten Moment das Schnauben eines Pferdes, das sich ihr mit großer Geschwindigkeit näherte.

Die dunkle Silhouette ihres Mannes nahm langsam Form an und sein Ross stieg in die Höhe, als er es direkt neben ihr grob zügelte. Dann sprang er ab, kam zu ihr, umfasste sie an der Taille und hob sie herunter. Abbey rechnete mit einer Strafpredigt und Zorn. Doch er zog sie fest an sich, drückte ihren Kopf an seine Brust und streichelte sie fiebrig.

„Geht es dir gut, Liebes?“ Er klang derart sorgenvoll, dass es ihr ins Herz schnitt.

„Ja, bestens. Ich fühle mich ausgezeichnet!“

„Da bin ich aber froh! Oh Gott, ich befürchtete, dich verloren zu haben.“

„Galway ist meine Heimat. Nicht einmal der Nebel kann mir die Orientierung rauben.“

„Pscht, Adeen, ich will diese Ausflüchte nicht hören. Schwöre, mir dergleichen nie wieder anzutun!“

„Nein, das werde ich nicht.“

Sie versuchte, sich aus seiner Umarmung zu lösen. Als er ihren Widerstand bemerkte, gab er sie frei, suchte ihren Blick.

„Jage mir nie wieder solche Angst ein“, flehte er. „Versprich es mir!“

„Das kann ich nicht. Da du offensichtlich ausgesprochen schreckhaft bist, muss ich davon ausgehen, dass es dich ebenfalls beunruhigen könnte, wenn ich Enten füttere. Und das lasse ich mir keinesfalls nehmen.“

Minutenlang starrte er sie an und sie befürchtete, er wäre zu Stein erstarrt. Doch plötzlich begann er zu lachen und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Dann wandte er sich ab. Sein Oberkörper bebte.

„Gott, was ist aus mir geworden“, stieß er tonlos hervor und Abbey überlegte, ob er lachte oder weinte.

Tröstend legte sie eine Hand auf seine Schulter. „Was bedrückt dich, Eamon? Willst du es mir erzählen?“

Er machte einen Schritt von ihr fort, sodass ihr Arm von ihm abfiel. „Eames“, erinnerte er sie gepresst.

„Ich will dich bei deinem richtigen Namen nennen“, widersetzte sich die junge Frau trotzig.

„Nicht mal ein Tag ist vergangen und du verstößt gegen unsere Abmachung?“

Als er sich umdrehte, zeichnete unterdrückte Wut seine Gesichtszüge. Abbey senkte den Kopf. „Warum können wir nicht einfach damit aufhören? Du sagst meinen Namen und ich deinen. Dann wäre alles in Ordnung.“

„Für wen?“

„Für uns beide.“

„Wir haben eine Vereinbarung“, wiederholte er fest. „Und jetzt reiten wir zurück. Das Wetter ist für einen weiteren Verbleib ungeeignet.“

„Das stimmt nicht.“

„Man kann mittlerweile nicht zehn Fuß weit sehen.“

„Ja und?“

Als er sie wieder ansah, blitzte eine Drohung in seinen Augen auf. „Wir reiten zurück. Hör auf, mir ständig zu widersprechen.“

Aber das muss ich tun, Eames.

„Was hast du gesagt?“ Mit zusammengekniffenen Augen musterte er seine Frau, die ihn trotzig ansah.

„Nichts. Ich habe nichts gesagt.“

„Du hast soeben erklärt, dass …“ Er brach ab und fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. Dann wandte er sich ab. „Verdammt, Adeen, hör auf mit diesen Spielchen.“

„Aber ich habe nichts gesagt!“

Statt einer Antwort kehrte er zu ihr zurück, umfasste sie an der Taille und hob sie in den Sattel. Bevor er ihr die Zügel reichte, musterte er sie streng. „Du wartest auf mich, verstanden?“

Sie nickte und er fing sein eigenes Pferd ein. Als er auf dessen Rücken saß, machte er Adeen ein Zeichen.

„Reite voraus, aber wage keine schnellere Gangart als Trab.“

„Ja, Eames.“

„Und jetzt?“, wollte sie auf dem Weg von den Stallungen zum Haus wissen. „Ich nehme an, das Wetter ist deiner Ansicht nach für einen Spaziergang ebenso ungeeignet, da du befürchtest, dich im Nebel zu verlaufen.“

„Werde nicht frech“, brummte er. „Du könntest mir vorlesen.“

„Davon halte ich nichts.“

„Kannst du dich nicht erinnern …“

„Nein, kann ich nicht.“

„Selbstverständlich nicht, Entschuldigung.“ Er führte sie in den Salon. „Ich bitte dich darum, mir vorzulesen.“

Abbey knirschte mit den Zähnen. „Du hast versprochen, dass ich meine Tage nach meinem Ermessen gestalten darf.“

„So ist es in Bezug auf den Alltag. Momentan befinden wir uns in den Flitterwochen.“

„Ha“, empörte sie sich und winkte ab. „Bedeutet das, ich muss mich bis zu deren Ende langweilen?“

„Lesen ist ein spannungsreicher Zeitvertreib“, versuchte er sie zu überzeugen.

„Es ödet mich an.“

„Ich sehe schon, so kommen wir nicht weiter. Was würdest du an einem Tag wie diesem tun?“

„Vermutlich die neuesten Modehefte studieren und meine Garderobe für die Saison zusammenstellen. London benötigt eine Menge Vorbereitung.“

Er betrachtete sie, als überlegte er, woher sie soeben gekommen war. Angesichts seines konfusen Benehmens war nicht auszuschließen, dass er momentan tatsächlich aus allen Wolken fiel.

„Ich bin es, deine Frau, Abbey“, erklärte sie spöttisch und winkte ihm zu.

Er räusperte sich. „Das verstehe ich nicht.“

„Es ist nicht so schwer zu begreifen. Um eine erfolgreiche Saison zu absolvieren, benötigt es sorgfältiger Planung. Du kannst diese getrost mir überlassen. Meine Mutter hat mich gelehrt, kein Detail zu übersehen.“

„Beruhigend“, murmelte er und knetete sein Kinn. „Du bist mir ein Rätsel.“

Abbey lächelte erfreut. „Welch nettes Kompliment. Genau so soll es sein.“

„Ja?“

„Mhm.“ Sie nickte nachdrücklich.

An seinem Blick vermochte sie zu erkennen, dass er schmolz.

„Wir könnten gemeinsam in den Ort flanieren und aktuelle Modezeichnungen erwerben. Es ist nicht gefährlich und wir bleiben auf dem Weg“, versuchte sie ihn ein weiteres Mal aus dem Haus zu locken.

„In Ordnung.“

Überrascht hob sie die Augenbrauen. „Ist es mir wahrhaftig gelungen, dich dazu zu überreden, unser Zuhause ein zweites Mal an diesem Tag zu verlassen?“

„Ja.“ In dem Augenblick wirkte er hilflos wie ein Insekt, das sich in einem Spinnennetz verheddert hatte und sie bekam fast Mitleid mit ihm.

„So fürchterlich ist es nicht“, flüsterte sie beschwichtigend.

„Was genau?“

Ja, das war eine gute Frage. Abbey dachte sekundenlang nach.

„Ich. So fürchterlich bin ich nicht. Du musst mich nicht ansehen, als würde ich dich jeden Augenblick erstechen.“

„Tue ich das?“

Sie verzog nachdenklich den Mund. „Ein klein wenig.“

Er atmete tief durch und zwinkerte ihr verschmitzt zu. „Verzeih, wenn ich etwas streng wirke. Diese ganze Angelegenheit ist neu für mich.“

Er machte eine allumfassende Handbewegung.

„Schon vergessen“, winkte sie gnädig ab. „Wollen wir uns umkleiden und danach aufbrechen?“

Statt einer Antwort bot er ihr den Arm und führte sie in den oberen Stock, wo er sich vor ihrer Zimmertür von ihr trennte.

Wie stets hörte er ihr aufmerksam zu …

„Ende dieser Woche plane ich, nach Dublin abzureisen“, erzählte Mac Guaire, während sie den Park passierten. Der helle Kies knirschte unter ihren Schuhen. „Es gibt einige Orte, die ich dir dort zeigen möchte. Abgesehen davon schätze ich, dass dir die Stadt gefallen wird.“

„Dessen bin ich gewiss“, strahlte Abbey. „Jede Ansiedlung, die größer als Galway ist, besitzt meine Sympathien. Ich habe die Nase von diesem verschlafenen Nest gestrichen voll.“

Der Captain runzelte angesichts ihrer unfeinen Sprechweise die Stirn, ging allerdings kritiklos darüber hinweg. „Das Leben dort unterscheidet sich grundlegend von dem hier“, erklärte er.

„Das will ich hoffen! Wann ziehen wir eigentlich nach London? Planst du, mit einem deiner Frachter nach England überzusetzen?“

„Im Herbst und ja, wir werden eines meiner Schiffe nehmen. Ich habe in regelmäßigen Abständen in der Hauptstadt zu tun.“

Sie passierten das schmiedeeiserne Tor, welches die Grundstücksgrenze markierte. Die Gaslaternen waren entzündet worden und wirkten wie kleine Sonnen hinter einer Wolkenwand, aufgefädelt an einer endlosen Kette.

„Ich habe immer davon geträumt, längere Zeit in London zu leben. Vor zwei Jahren wurde ich in die Gesellschaft eingeführt.“ Abbey seufzte nachdenklich und fuhr schnell fort: „Ich bin deshalb nicht verheiratet, weil meine Schwestern zuerst an der Reihe waren.“

„Jetzt bist du verheiratet.“

„Äh, ja. Ich meinte, bis jetzt. Nicht, dass du denkst, ich hätte keine Verehrer gehabt.“

„So eine unschmeichelhafte Schlussfolgerung würde ich nie anstellen“, wehrte er sich amüsiert.

„Gott sei Dank!“, seufzte sie.

Sie bogen um die nächste Ecke und traten in die große Hauptstraße ein.

„Dort vorne ist mein Lieblingsgeschäft. Mein Brautkleid stammt von Mrs Brown.“

„Es war vom feinsten“, erinnerte er sich. „Deswegen schlage ich vor, nachzusehen, welche modischen Neuigkeiten sie für uns hat.“

„Ich hoffe, dass sie schon eingetroffen sind. Mrs Brown erklärte, dass diese im Laufe der Woche aus Paris gebracht werden.“

„Vielleicht haben wir Glück“, meinte er und hielt ihr Augenblicke später höflich die Tür auf.

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und trat in den Laden ein.

„Oh, Mrs Mac Guaire! Ich hatte nicht so bald mit Euch gerechnet.“

Der Blick der Schneiderin glitt über die Schulter der jungen Frau hinweg. „Sehr erfreut, Captain. Eure Frau ist süchtig nach Modezeichnungen. Wie es aussieht, hat sie Euch angesteckt?“

„Meine Liebe, verraten Sie mich doch nicht!“, lachte Abbey und drehte sich zu ihrem Mann um. „Es ist nicht so schlimm, wie Mrs Brown es darstellt.“

„Deine Schwächen sind mir ein Herzensanliegen“, erklärte er und wandte sich zur Schneiderin. „Da ich mein Weib glücklich machen möchte, hoffe ich, dass Sie mich entschieden dabei unterstützen.“

„Nichts lieber als das!“, kicherte die Inhaberin und deutete auf einen bequemen Armstuhl. „Wollt Ihr Euch setzen?“

„Gerne.“

Auf dem Weg zu dem Sitzplatz öffnete er den Mantel. Abbey sah ihm mit klopfendem Herzen nach. Die Angst vor ihm war in den letzten Stunden von ihr abgefallen. Eames war großartig! Abgesehen von seinen nervigen Schrullen war er wahrhaft ein angenehmer Mann.

„Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten, Captain?“

„Momentan nicht, danke. Kümmern Sie sich bitte um meine Frau.“

 Er setzte sich, lehnte sich zurück und schlug lässig ein Bein über das andere. Die Arme legte er entspannt auf den Lehnen ab.

„Na, Mrs Mac Guaire, habt Ihr das Interesse an den Zeichnungen verloren?“, neckte die Schneiderin und Abbey riss sich von der Betrachtung ihres Mannes los und hoffte, dass niemand die aufsteigende Hitze, die ihre Wangen glühen ließ, bemerkte.

Sie folgte Mrs Brown in eine andere Ecke des Geschäfts und setzte sich dort vor einen breiten Schreibtisch. Ihr gegenüber nahm die Kleidermacherin Platz und zog aus einer Schublade einen Packen neuer Modeentwürfe hervor. Gemeinsam gingen sie diese durch und als sie fertig waren, zählte Abbey jene, die sie zur engeren Auswahl beiseitegelegt hatte. Es handelte sich um neunzehn Entwürfe.

„Ich zeige sie dem Captain. Er soll entscheiden, welche in Auftrag gegeben werden.“

„Tut das, Mrs Mac Guaire.“

Während Abbey auf ihren Mann zustrebte, verschwand die Schneiderin im hinteren Teil des Ladens.

Eames sah ihr entgegen, als sie sich ihm näherte.

„Und?“, wollte er freundlich wissen und wirkte, als genösse er den Umstand, hier zu sein. Die meisten Männer, die ihre Frauen begleiteten, verhielten sich genervt und machten aus ihrem Unbehagen keinen Hehl. Nicht so der Captain. Sie ließ sich neben ihn auf einen Stuhl sinken.

„Das sind die Entwürfe für die engere Auswahl. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich sie dir gerne zeigen und dir die Entscheidung, welche wir nehmen, überlassen.“

Er nickte und senkte den Blick auf die Skizzen in ihren Händen. Leise begann sie ihm die Machart und Funktion eines jeden Kleides zu erklären. Außerdem erläuterte sie ihm die Besonderheiten der unterschiedlichen Modelle. Er hörte aufmerksam zu, nickte, und wenn er aufsah, meinte sie, stets Wohlwollen in seinen Augen zu erkennen. Es war fast unheimlich, doch bewirkte diese stille Anbetung, dass sie Vertrauen zu ihm fasste. Nachdem sie alle Entwürfe durchgegangen waren, musterte sie ihn fragend: „Jetzt bist du an der Reihe zu wählen.“

Er suchte ihren Blick und hielt ihn gefangen. „Welche gefallen dir am besten?“

„Ich finde ein jedes wundervoll und kann mich nicht entscheiden. Deswegen brauche ich deine Hilfe.“

„In Ordnung.“ Er nickte und erhob sich.

Verwirrt sah sie zu ihm auf. Da streckte er ihr seine Hand entgegen. Verunsichert ergriff sie diese und ließ sich in die Höhe ziehen. Er nahm ihr die Zeichnungen ab und schlenderte zum Durchgang. Dort klopfte er an den Türrahmen. Sofort tauchte Mrs Brown auf.

„Seid Ihr fündig geworden?“, fragte sie und blickte den Captain interessiert an.

„Ja“, erwiderte dieser und reichte ihr den Stapel. „Wir nehmen sie alle.“

„Aber …“ Abbey verschlug es die Sprache. „Es handelt sich um neunzehn Kleider!“

Mrs Brown starrte ihn an, als wäre er ein Geist.

„Neunzehn, dreiundzwanzig oder fünfundvierzig … es ist mir einerlei. Sie gefallen dir, deswegen bekommst du sie. So simpel ist die Sache. Was gehört außerdem dazu?“ Er drehte sich fragend zu Abbey, doch diese schwieg fassungslos und musterte ihn mit offenem Mund.

„Strümpfe, Hüte, Schuhe, Tücher, Taschen, Unterkleider“, begann die Schneiderin automatisch aufzuzählen.

Der Captain wandte sich wieder zu ihr. „Stellen Sie alles zusammen. Die Maße meiner Frau haben Sie?“

„Ja, Mr Mac Guaire.“

„Wir werden Ende dieser Woche nach Dublin aufbrechen. Die Kleider, welche Sie bis dahin nicht fertiggestellt haben, liefern Sie dann bitte direkt dorthin. Es besteht keine Eile.“

„Selbstverständlich, Captain.“

„Stellen Sie zwei Rechnungen und überbringen Sie mir die erste gleichzeitig mit der erfolgten Lieferung am Ende dieser Woche. Sie müssen keine Angst um Ihr Geld haben. Ich werde sofort bezahlen, da ich nichts vom Anschreiben halte.“

Jetzt fiel auch der Schneiderin die Kinnlade hinunter. Ein Nicken war alles, was sie zustande brachte. Mac Guaire machte auf dem Absatz kehrt, zog den Arm seiner ebenfalls reglosen Frau näher und hängte ihn bei sich ein.

„Auf Wiedersehen, Mrs Brown“, grüßte er und öffnete die Tür.

„Wiedersehen … Mr … Captain“, stammelte die Schneiderin überwältigt und rief ein gehauchtes „Vielen Dank!“, hinterher.

„Und wohin gehen wir jetzt?“, wollte er unternehmungslustig wissen, als sie auf der Straße standen.

„Zum Schuhmacher?“, schlug Abbey überrascht vor.

„Eine ausgezeichnete Idee. Neunzehn Kleider bedeuten, dass du die gleiche Anzahl an Schuhen benötigst. Habe ich recht?“

„Nein. Das Schuhwerk vermag man mehrmals zu kombinieren.“

„Wir werden sehen.“

Fünfzehn bestellte Paar später standen sie wieder auf der Straße.

„Wir kehren jetzt nach Hause zum Essen zurück“, erklärte er. „Wenn du wünschst, setzen wir unseren Einkaufsbummel am Nachmittag fort.“

„Bist du nicht müde?“, wollte sie vorsichtig wissen. Sie konnte nicht glauben, dass er tatsächlich so war, wie er sich ihr präsentierte. Eames erschien ihr wie ein wahrgewordener Mädchentraum.

„Ganz und gar nicht. Ich habe meine Zeit selten auf derart belebende Weise verbracht, wie in den letzten zwei Stunden.“

„Wie kannst du Spaß daran haben?“, platzte sie vollkommen durcheinander heraus.

„Es liegt an dir, Adeen. Ich will jede Minute, die ich mit dir verbringen darf, auskosten. Man weiß nie, wann das Glück endet.“

Sie hatten die Hauptstraße hinter sich zurückgelassen und hielten im gedämpften Schein einer der Gaslaternen. Er sah ernst auf sie herab und seine Augen versanken in ihren. „Das Leben ist zu kurz, um es nicht auszukosten“, fuhr er leise fort und hob eine Hand, legte sie an ihre Wange und strich zärtlich darüber. „Es ist ein Wunder, das mich dich finden ließ und ich verspreche, dies niemals zu vergessen. Kein Augenblick soll vergeudet sein.“

Abbey senkte ihre Lider und hob ihr Kinn, bot ihm ihre Lippen an. Es wäre zu romantisch, wenn er sie unter der Laterne an einem solchen Tag küsste: inmitten der Öffentlichkeit und doch geheimnisvoll verborgen.

„Gehen wir weiter“, schlug er vor und sie öffnete die Augen, bemerkte, dass er im Begriff war, sich abzuwenden.

Sie konnte sich nicht erklären, weshalb er sie nicht küsste. Warum hielt er sie auf Distanz? Ein kleiner Stich in ihrem Herzen ließ sie zusammenzucken und sie schluckte. Was war sie für ihn? Oder besser: Wen stellte sie für ihn dar? Adeen? Plötzlich flackerte das alte Unbehagen wieder auf, wie ein Dorn, der sich tiefer in ihr Inneres bohrte.

Wer war jene Frau? Weshalb hatte sie Eames verlassen und was hoffte dieser, in ihr, Abbey, zu finden? Fragen über Fragen schwirrten durch ihren Kopf. Ach, hätte sie doch eine Antwort darauf!

Nach dem Lunch zog sich Abbey in ihr Zimmer zurück. Von dem Fest des vergangenen Tages war sie müde. Zu der Erschöpfung gesellten sich all die neuen, unerklärlichen Eindrücke ihren Mann betreffend und die offenen Fragen, welche sie verstörten. Sie schloss die Augen, blätterte in Gedanken die farbenprächtigen Zeichnungen jener Kleider durch, die sie bald besitzen würde. Sie müsste glücklich sein. Eames schenkte ihr mehr, als ihr Herz begehrte und doch steigerte sich in ihr das Gefühl, dass nicht sie es war, der er diese Freude bereitete, sondern Adeen. Einer Frau, deren Platz auszufüllen sie auserwählt war. Abbey seufzte gequält und schloss die Augen, sah ihn wieder vor sich: seine bewundernden Blicke, die Anbetung darin, das Lob, welches er über sie ergoss. Trotzdem sieht er mich nicht. Bekümmert wischte sie eine Träne von ihrer Wange.

Abbey war, im Gegensatz zu ihrer drittältesten Schwester Caroline, die man von jedem Baum herunterzerren musste, nie sonderlich abenteuerlustig gewesen. Das angenehme und zuweilen eintönige Leben – zweiteres ebenfalls aus Sicht ebendieser Schwester – kam ihrem Wesen entgegen. Sie vermochte sich mit jeglichem Firlefanz (Carolines Lieblingswort) abzulenken und träumte stundenlang von ihrer Zukunft. Doch die von Eamon verhängten Einschränkungen weckten ungewohnten Widerstand in der jungen Frau. Plötzlich konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als auf einem Pferderücken durch die Landschaft zu jagen. Sie überlegte sogar, wie es wäre, mit einem seiner Schiffe aufs offene Meer zu fahren. Abbey erkannte sich nicht wieder. Eigentlich müsste sie – und hier gelangen wir erneut zum ursprünglichen Problem – überglücklich sein. Ihr Mann überhäufte sie mit Geschenken, kaufte ihr mehr als sie begehrte, erfüllte ihr jeglichen Wunsch (wenn er nicht zu gefährlich war) und himmelte sie an. Trotzdem vermied er es tunlichst, sie an sich heranzulassen. Der allabendliche Tanz war die einzige Zeit, in der er sie in den Armen hielt.

Es war keine Woche vergangen, da war sie bereits dankbar für diese ungewöhnliche Abmachung, denn sie stellte die einzige Möglichkeit dar, ihn zu berühren und ihm nahe zu sein.

Heute wollten sie endlich in Richtung Dublin aufbrechen. Abbey hatte die Hauptstadt nie besichtigt, sondern war dort lediglich an Bord eines Schiffes gegangen, um nach England überzusetzen. Deswegen konnte sie sich ihr zukünftiges Leben nur vage ausmalen. Mit Sicherheit würde es um einiges abwechslungsreicher sein als hier in Galway.

Abbey straffte die Schultern, warf einen letzten Blick in ihr Zimmer und eilte dann in den unteren Stock. Eamon erwartete sie in der Halle, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Sekundenlang wähnte sie ihn an Deck eines Schiffes – die Weite des imaginären Ozeans verlieh ihm einen verwegenen Hauch.

„Bereit?“, wollte er mit einem freundlichen Lächeln wissen, seine Augen strahlten wie immer, wenn er sie betrachtete und Abbey löste sich von dem eindrucksvollen Fantasiebild.

„Ja.“

Sie ergriff seine Hand und schritt neben ihm aus dem Haus. Die Kutsche war mit ihren Koffern beladen und erwartete ihre Fahrgäste. Der Hausdiener öffnete ihnen die Kutschentür und die Herrschaften stiegen ein. Kurze Zeit später rumpelten sie Galways Hauptstraße entlang und Abbey seufzte entzückt.

„Ich bin schrecklich gespannt auf dein Heim in Dublin“, bekannte sie und warf ihrem Gatten einen flüchtigen Seitenblick zu, bevor sie sich wieder auf das Geschehen im Freien konzentrierte.

„Es ist nicht so geschmackvoll eingerichtet, wie unser Haus hier. Doch bin ich zuversichtlich, dass du Abhilfe schaffen wirst.“

„Oh, ich soll es neu einrichten?“

„Wenn du es wünschst. Es ist dein Zuhause und es ist mir ein Anliegen, dass du dich darin wohlfühlst.“

Wieder sah sie kurz zu ihm, schenkte ihm ein erfreutes Lächeln. „Ich kann es kaum erwarten. Es hat mir großes Vergnügen bereitet, unser Heim in Galway auszustatten.“

„Ausgezeichnet. Du wirst dich in nächster Zeit mehrmals kreativ ausleben können. Vergiss die Häuser in London und Brighton nicht.“

„Und in New York“, warf sie ein.

Er schüttelte den Kopf und als sie sich ihm erneut zuwandte, erkannte sie, dass sich seine Gesichtszüge verfinsterten. „Nein. Nach New York werde ich dich nicht mitnehmen. Die Überfahrt dauert zu lange und ist außerdem zu gefährlich.“

Enttäuscht schob sie die Unterlippe vor. „Aber ich hoffte, an deiner Seite die Neue Welt zu bereisen. Es wäre wundervoll und ich ersehne es!“

„Kommt nicht infrage.“

„Darf ich dich daran erinnern, dass du mir versprochen hast, mir jeglichen Wunsch zu erfüllen?“

„Darf ich dich wiederum daran erinnern, dass dies nur zutrifft, wenn es sich nicht um Wagnisse und Unschicklichkeiten handelt?“

„Es ist nicht gefährlich, nach Amerika zu reisen! Meine Freundin Emma war schon dort!“

„Die Einschätzung deiner Wünsche in Bezug auf ihre Bedenklichkeit liegt ausschließlich in meinem Ermessen“, stellte er streng fest.

„In deinem allein? Du holst keine andere Meinung ein?“

„So ist es. Zumindest in den Belangen, die dich betreffen.“

„Pah!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte wütend zu Boden. „Ich kann dich überhaupt nicht leiden.“

Da lachte er amüsiert auf. „Ach, Adeen, dein Temperament hat mir gefehlt!“

Sofort erstarrte sie innerlich. Ihr die Reise nach Amerika zu verweigern, fühlte sich nicht so schrecklich an, wie dieses freundliche Geständnis. Jedes Mal, wenn er sie mit dem falschen Namen ansprach und auf eine längst vergangene Erinnerung anspielte, wurde ihr übel. Die Intensität steigerte sich kontinuierlich und Abbey befürchtete, sich eines nicht allzu fernen Tages übergeben zu müssen. Unauffällig legte sie eine Hand über ihren Bauch. Wieso kultivierte er diesen Wahn, anstatt ihn abzuschütteln? Ihrer beider Leben wäre perfekt.

„Du sagst nichts?“, wollte er besorgt wissen, beugte sich vor und berührte sie sanft am Oberarm. Doch sie weigerte sich, ihn anzusehen.

„Was erwartest du von mir?“, presste sie angespannt hervor.

„Du könntest zum Beispiel erwidern, dass du mich ebenfalls vermisst hast.“

„Aber es entspricht nicht der Wahrheit. Vor vier Monaten habe ich nicht mal gewusst, dass es dich gibt!“

Er zog seine Hand zurück. „Warum nimmst du alles so genau? Wenn du wolltest, gelänge es dir unzweifelhaft ohne Anstrengung mitzuspielen.“

„Nein“, schnaubte sie, „das ist abartig. Auf mehr als das, was wir vereinbart haben, werde ich mich nicht einlassen.“

Da er schwieg, wagte sie einen schnellen Blick zu ihm. Er hatte den Kopf abgewandt und blickte reglos aus dem Fenster. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was in ihm vorging. Eamon stellte für sie ein unbekanntes Land dar. Weder verstand sie seine Motivation noch die Koordinaten, innerhalb derer er sein Leben führte. Sie seufzte und beschloss, ebenfalls den Mund zu halten. Auf New York würde sie ein anderes Mal zurückkommen. Immer wieder. Bis er nachgab.

In Dublin begann für Abbey ein neues Leben. Eamon arbeitete hart und versagte seiner jungen Frau nicht, ihre Tage nach Lust und Laune zu gestalten. Nachdem sie die Einrichtung des Stadthauses, welches zwanzig Gehminuten vom Hafen entfernt lag, teilweise erneuert und ergänzt hatte, nahm sie alle Einladungen an, die ins Haus flatterten. Es dauerte nicht lange und sie lud ihre neuen Freundinnen ebenfalls zu sich ein und wurde eine beliebte Gastgeberin. Manchmal gesellte sich Eamon zu ihnen und avancierte zum Helden der Frauenwelt. Eine jede himmelte ihn an, weil er Abbey auf Händen trug. Sämtliche Ehefrauen sehnten sich danach, dass doch auch ihre Gatten so aufmerksam wären, wie der Captain. Und Abbey? Sie mochte ihn wahrhaftig und wünschte sich immer dringlicher, dass er sie während der ganzen Nacht in den Armen hielt und nicht nach dem Tanz zurück in ihr eigenes Bett schickte. Sie träumte davon, dass er sie beim Namen rief.

Jedes Mal, wenn er es nicht tat, war es, als stieße er sie weiter von sich fort. Aufgrund dieses dadurch verursachten Schmerzes errichtete die junge Frau eine innere Mauer gegen ihren Mann. Damit sie die Missachtung ihrer eigenen Person halbwegs zu ertragen vermochte, begann sie, ihn zu meiden.

An einem Freitagabend hörte sie eine zornige Stimme aus dem Arbeitszimmer schallen, als sie in der Halle ihren Hut abnahm. Sie war soeben von einer Teegesellschaft zurückgekommen und wollte sich etwas ausruhen, bevor sie sich für das Konzert am Abend herrichtete. Überrascht hielt sie inne und warf dem Hausdiener einen fragenden Blick zu.

„Der Captain hat eine Unterredung mit einem seiner Kapitäne“, erklärte der Angestellte.

Abbey runzelte die Stirn und widmete sich wieder ihrem Hut. Da wurde es erneut laut und die junge Frau kam nicht umhin festzustellen, dass sich die Männer anbrüllten. Dies war eine unbekannte Seite von Mac Guaire und eine Gänsehaut prickelte auf ihren Armen. Sie reichte dem Diener ihren Hut und die Handschuhe, blieb dann unschlüssig stehen, während der Butler ihre Kleidungsstücke verstaute und sich zurückzog. Auf Zehenspitzen schlich sie näher.

„… zerstört den kompletten Ruf Eurer Reederei und ich werde das nicht zulassen!“

„Sie tun, was ich Ihnen befehle! Ich bin derjenige, der Ihren Lohn bezahlt!“ Eamons Stimme klang drohend und schneidend.

„Dann kündige ich hiermit! Was Ihr verlangt, ist …“

Abbey hob eine Hand und klopfte. Sofort verstummten die Männerstimmen und eine kurze Stille dehnte sich aus.

„Ja?“, kam es nach einigen Augenblicken ungehalten von Eamon und sie öffnete die Tür. Trat vorsichtig ein. Ihr Mann und ein Fremder standen einander gegenüber, die Köpfe in ihre Richtung gedreht. Doch sie hatte nur Augen für den Captain. Seine Gesichtszüge waren hart wie Stein und in seinem Blick schwelte tödlicher Hass. Dieses Gefühl hielt ihn gefangen, denn er benötigte eine lange Weile, bis er sie endlich wahrnahm und sich wieder in jenen Mann verwandelte, den sie kannte.

„Adeen“, murmelte er und wandte sich ihr zu. „Ist etwas passiert?“

Sorge umwölkte seine Stirn. Da sie diesen Blick kaum ertragen konnte, sah sie zu dem Gast. Als würde er sich erst jetzt seiner Pflichten entsinnen, stellte Mac Guaire hastig vor: „Das ist Captain O’Ceanny, meine Frau Mrs Mac Guaire.“

Der Kapitän verbeugte sich und Abbey nickte ihm abgelenkt zu. Ihre Aufmerksamkeit galt nach wie vor ihrem Mann.

„Adeen?“, wiederholte er, da sie keine Anstalten machte, zu antworten.

„Es betrifft das Konzert heute Abend. Bitte vergiss nicht, dass du zugesagt hast, mich zu begleiten.“

„Wie könnte mir das entfallen?“, entgegnete er mit einem zärtlichen Lächeln. „Dieser Termin steht fest in meinem Kalender eingeschrieben.“

Zögernd lächelte sie ihn an und er erwiderte die Geste, als wäre nichts passiert. Als hätte er nicht vor wenigen Minuten so laut gebrüllt, dass man es bis in die Halle gehört hatte.

„Dann … dann bin ich beruhigt.“

Die in der Luft liegende Spannung verunsicherte sie.

„Gibt es außerdem etwas?“, wollte er sanft wissen.

„Nein“, sagte sie schnell und eilte aus dem Raum.

Ihr Herz klopfte aufgeregt auf dem Weg in ihr Zimmer. Sie konnte sein hasserfülltes Gesicht nicht vergessen. Es hatte sie zutiefst erschreckt. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich beunruhigt, wer der Mann, den sie geheiratet hatte, in Wahrheit war.

Obwohl er sie nie grob behandelt, sie nie gepackt oder physisch bedroht hatte, war ihr bewusst, dass er ein kraftstrotzender Mann war. Eamon saß während des Konzerts neben ihr, eine Hand ruhte auf seinem Oberschenkel. Sie starrte auf die schlanken Finger und erinnerte sich an seine rauen Handflächen, die auf schwere körperliche Arbeit schließen ließen. Er entstammte nicht dem Adel. Dass er es als Ire so weit gebracht hatte, zeugte von einem unbeugsamen, kämpferischen Geist und der Kraft eines Bären. Der Captain arbeitete viel und hart und sie überlegte, wie er sich wohl gab, sobald sie sich nicht in seiner Nähe aufhielt.

Entsetzen packte sie bei dem Gedanken, was passieren würde, sollte sie eines Tages seine Gunst verspielen. Sie schauderte und Angst entzündete sich in ihr. Was, wenn er demnächst realisierte, dass sie nicht Adeen war? Würde er sie anbrüllen, wie er es bei O’Ceanny gemacht hatte? Ihr drohen? Sie womöglich schlagen?

Nein, sie durfte nicht daran denken! Sie wandte den Blick von seinen Fingern ab und versuchte, sich auf das Musikstück zu konzentrieren, welches den Saal bis in den letzten Winkel ausfüllte. Es gelang ihr kaum. Sie konnte Eamons mit einem Mal bedrohliche Präsenz nicht ausblenden.

„Du bist so still“, stellte er in der Pause sorgenvoll fest, hob eine Hand und strich ihr mit einem Finger sanft über die Wange. „Ist alles in Ordnung?“

Sie konnte es nicht verhindern und zuckte zurück, suchte, erschrocken von ihrer Reaktion, seinen Blick. Sein Augenausdruck veränderte sich und er ließ den Arm sinken. Eindringlich musterte er sie.

„Du fürchtest mich“, bemerkte er entsetzt und trat einen Schritt nach hinten.

An seiner Haltung konnte sie erkennen, dass er überlegte, wie er mit dieser Erkenntnis umgehen sollte. Momentan gab es kaum Möglichkeiten für eine angemessene Reaktion, denn überall um sie herum schoben sich Menschen an ihnen vorbei.

„Ich hole deinen Umhang“, murmelte er, wandte sich steif um und bahnte sich einen Weg zur Garderobe.

Angsterfüllt sah sie ihm nach. Was sollte sie tun? Davonlaufen? Aber wohin? Und dann? Was, wenn er sie fände? Wie würde er sie bestrafen?

Im Gegensatz zu ihren Gedanken, die in alle Himmelsrichtungen davonstoben, verharrte sie wie erstarrt und erwartete seine Rückkehr.

Wortlos legte er den Umhang um ihre Schultern, bot ihr den Arm jedoch nicht an. Verwirrt folgte sie ihm in einigem Abstand vor den Konzertsaal. Die Kutschen standen hintereinander, dazwischen eilten Diener umher, auf der Suche nach dem Gefährt ihrer Herren. Es war ein einziges Durcheinander, doch bei weitem übersichtlicher, als es am Ende der Veranstaltung der Fall sein würde. Eamon machte einem Pagen ein Zeichen und dieser hastete davon, um den Wagenführer des Captains zu informieren, dass er vorfahren sollte. Sie warteten schweigend und Abbey fürchtete sich vor der Stille auf dem Weg nach Hause. Oder vor seinem Brüllen. Je nachdem.

Zuvorkommend half er ihr beim Einsteigen, die Berührung seiner Hände brannte auf ihrer Haut. Zitternd drückte sie sich in eine Ecke. Eamon war ihr unheimlich. Mit jedem Tag mehr. Diese überwältigende Angst hatte sich wie ein Funken in ihrem Inneren entzündet. Trotzdem wünschte sie sich, er würde endlich sein wahres Gesicht zeigen. Dann wüsste sie wenigstens, woran sie war.

„Ich verstehe nicht“, murmelte er, nachdem sie den Trubel hinter sich gelassen hatten und durch menschenleere Straßen fuhren. „Was habe ich getan?“

Abbey presste die Handflächen aneinander, bemühte sich, auf diesem Weg den inneren Druck abzubauen.

„Nichts“, flüsterte sie.

„Aber du hast Angst vor mir! Leugne es nicht!“

Sie holte zitternd Luft, nickte.

„Weshalb?“

Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und hielt ihr die Hände mit den Handflächen nach oben hin. Sekundenlang starrte sie darauf, dann legte sie zögernd ihre Hände darauf. Seine Daumen glitten über ihre Handrücken und streichelten sie sanft.

„Ich weiß es nicht … vermutlich liegt es daran, dass ich dich nicht kenne.“

Eamon runzelte die Stirn. „Wir sind seit zwei Monaten verheiratet“, erinnerte er sie. „Du solltest mir gegenüber Vertrauen gefasst haben.“

Abbey wich seinem Blick aus und musterte das zärtliche Streicheln seiner Finger.

„Ich verspreche dir, Adeen, dass ich meine Faust nie gegen dich erheben werde. Nie könnte ich dir etwas zuleide tun, Liebes. Du bist alles für mich, das weißt du doch!“

Am liebsten hätte sie sich ihm entrissen. Er sprach nicht mit ihr. Wie so oft. Ein Schluchzen stieg in ihr auf und sie war unfähig, es zurückzuhalten.

„Um Himmels willen“, stieß er entsetzt hervor, „Liebste, warum weinst du?“

Sie entzog ihm die Hände und versteckte ihr Gesicht dahinter, wandte sich ab und drückte sich in die Ecke.

„Adeen, Liebes“, rief er sie beunruhigt, vermied es aber, sie zu berühren. „Sag mir, was dich bekümmert! Ist es, weil ich dir bisher kein Schoßhündchen gekauft habe? Es tut mir leid, ich wollte das in London erledigen. Doch wenn du es sofort haben willst, kannst du dir gleich morgen eines aussuchen.“

Sein vollkommenes Missdeuten ihres Innenlebens verstärkte ihren Schmerz und sie schluchzte heftiger.

„Adeen, mein kleiner, lieber Schatz, geht es dir besser, wenn ich dir einen Hund kaufe? Oder ein neues Kleid? Was ist es, das dich wieder glücklich macht?“

Gar nichts davon, aber das würde er nicht verstehen. Sie biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ihre Verzweiflung mit aller Gewalt.

„Ein Hündchen wäre schön“, flüsterte sie.

Es würde ihr nicht helfen, aber zumindest konnte sie es streicheln und lieben. Es verwöhnen und umsorgen. Es berühren. Ihre Einsamkeit würde nachlassen.

Erleichtert, eine Lösung gefunden zu haben, stieß er die Luft aus und lehnte sich zurück. „Dann soll es so sein. Morgen bekommst du deinen Hund.“

Sie brachte es nicht übers Herz, einen Arm um ihn zu schlingen, als er an diesem Abend mit ihr tanzte. Abgesehen davon lehnte sich Abbey in ihren Gedanken nicht an seine Brust, sondern träumte sich an einen fernen Ort. Weit weg. In ein anderes Leben, mit einem anderen Mann. Sanft küsste er sie auf die Stirn, bevor sie sich in ihr Zimmer zurückzog.

„Morgen, nachdem wir deinen Hund geholt haben, werden wir ein Picknick unternehmen“, teilte er ihr mit und Abbey nickte resigniert, zog dann die Tür hinter sich zu.

„Oh, das ist er!“, rief Abbey begeistert und zeigte auf ein winziges weißes Fellknäuel, das aufgeregt um ihre Füße sprang.

Vorsichtig, um auf keinen der kleinen Hunde zu steigen, ging sie in die Hocke und streckte die Hände nach ihrer Wahl aus. Sanft umfasste sie das Tierchen um die Brust, hob es hoch und richtete sich auf. Selig drehte sie sich zu Eamon um. „Ist er nicht herzallerliebst?“, strahlte sie ihn, außer sich vor Freude, an.

„Ja, er ist fürwahr reizend“, stimmte er sofort zu und die Erleichterung darüber, dass sie die traurige Verstimmung wieder abgeschüttelt hatte, stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Ich wähle ihn oder ist es ein Mädchen?“, fragte sie an den Züchter gewandt.

„Es ist ein Weibchen“, erwiderte dieser ausdruckslos und Abbey lachte ihren Mann heiter an.

„Das bedeutet, von jetzt an sind wir in der Überzahl!“, kicherte sie.

„Du vergisst die Hengste“, erinnerte der Captain sie schmunzelnd und die Wärme in seinen Augen floss bis in ihr Herz.

„Oh, die habe ich vergessen“, gab sie ausgezeichnet gelaunt nach.

„Wir nehmen die kleine Ratte“, erklärte Mac Guaire und zog eine Geldbörse aus seiner Jackettasche.

„Du beleidigst Missy!“, empörte sich Abbey. „Sie ist von edler Rasse!“

Er lachte auf. „Missy? Heißt sie so? Himmel hilf, wann ist dir dieser Name eingefallen?“

„Gerade eben.“

Der Züchter nannte den Preis, ohne sich anmerken zu lassen, was er über das junge Ehepaar dachte. Eamon drückte ihm den doppelten Betrag auf die Handfläche.

„Aber …“, murmelte der Mann, doch der Captain ging nicht darauf ein, legte eine Hand an Abbeys Taille und schob sie sanft zur Kutsche zurück.

„Oh, er ist so niedlich!“, schwärmte sie, als sie das Hündchen auf ihrem Schoß hielt und sich das Gefährt in Bewegung setzte. „Und diese kleine Nase! Missy, du bist eine Schönheit!“

Eamon unterdrückte seine Erheiterung und lehnte sich ihr gegenüber zurück, verschränkte die Arme und betrachtete seine Frau wohlwollend. Die legte dem Tier vorsichtig ein Halsband um und befestigte eine Leine daran.

„So, jetzt kannst du bei unserem Picknick nicht davonlaufen!“

Die Kutsche hielt vor einem dichten Wald, dessen Boden von einzelnen Lichtpunkten erhellt wurde. Farne öffneten ihre federähnlichen Blätter wie Wasserfontänen über einem weichen Meer aus dunkelgrünem Moos und ein erdiger Geruch zeugte von der Ursprünglichkeit des Ortes. Eamon half seiner Frau und Missy ins Freie und griff dann nach einem Korb, den er für diesen Anlass hatte packen lassen. Er nahm ihre Hand in seine und führte sie auf einen schmalen Waldweg. Unterschiedliche Schattierungen aus Grün ließen sie tief durchatmen und sie wähnten sich, in eine Märchenwelt einzutreten.

„Glaubst du, ich soll sie absetzen?“, wollte Abbey begeistert wissen.

„Warum nicht? Du hast sie angeleint.“

Vorsichtig stellte sie das Tier auf den Boden, das sogleich wild mit dem Schwanz wedelte, die Schnauze senkte und aufgeregt schnupperte.

„Hoffentlich wird sie nicht schmutzig!“, murmelte Abbey, was ihn erneut auflachen ließ.

„Vermutlich wird sie nach unserem Ausflug nicht mehr schäfchenwolkenweiß sein.“

Entsetzt sah Abbey ihn an. „Dann sollte ich sie wohl doch lieber tragen.“

Er zuckte mit den Achseln und sie nahm das Tier wieder auf den Arm. So spazierten sie eine Weile und erreichten bald eine sonnige Lichtung.

„Das Wetter ist ideal“, stellte Eamon zufrieden fest.

„Es ist traumhaft. Ein ungewöhnlich warmer Tag!“

Abbey beobachtete ihren Mann, der eine Decke ausbreitete und den Korb darauf abstellte.

„Bitte, setz dich.“

Er half ihr dabei, sich auf dem Lager niederzulassen. Sie kicherte, als Missy von ihrem Schoß springen wollte und deshalb wie verrückt an der Leine zog.

„Nein, du musst hierbleiben! Ich will nicht, dass du später wie ein Wildschwein aussiehst!“

Eamon ließ sich auf ein Knie herab und richtete die vorbereiteten Köstlichkeiten in der Mitte der Decke an. Der Wohlgeruch zog Missys Aufmerksamkeit auf sich. Ihr kleines Näschen zitterte, so intensiv schnupperte sie, dabei zerrte sie heftig an der Leine, um das Ziel ihres Begehrens zu erreichen.

„Nein, du schlimmer Hund“, schimpfte Abbey. „Das ist nicht für dich!“

Als der Captain fertig war, setzte er sich ihr gegenüber. „Was darf ich dir reichen?“

„Ich glaube, das wird nichts“, gluckste die junge Frau. „Mit Missy auf dem Schoß werde ich nicht essen können.“

„Dann binde ich sie in der Zwischenzeit an einem Baum fest.“

„Nein! Die Arme!“ Empört drückte sie den Hund an ihre Brust.

„Wenn du fertig bist, kannst du sie wieder holen. Es ist erforderlich, dass wir beide jetzt essen. So ist es vorgesehen.“

Abbey runzelte die Stirn. „Wir könnten es auch nacheinander tun.“

Aber Eamon schüttelte entschieden den Kopf. „Wir müssen es gleichzeitig machen, Adeen. Das ist der Ablauf. Dann wirst du mich ansehen und ich werde dich küssen.“

Erschrocken riss sie die Augen auf. „Du willst mich küssen? Warum heute?“

„Weil es so geschehen muss, Adeen. Wie damals.“

Eiseskälte ließ sie augenblicklich erstarren. Wollte er wieder eine weit zurückliegende Erinnerung zum Leben erwecken, wobei es dabei belanglos wäre, mit wem er in die Vergangenheit eintauchte? Missy nutzte den Moment ihrer Unaufmerksamkeit und riss sich los. Mit einem Satz landete sie inmitten der Köstlichkeiten und schnappte sich einen Schinken, der danach vorwitzig aus ihrem Maul ragte.

Entsetzen verzerrte Eamons Gesichtszüge, bevor sich aufflammender Zorn darüberlegte. Mit einer flinken Bewegung packte er Missy am Nacken und hob sie auf.

„Lass sie los! Du tust ihr weh!“, schrie Abbey und sprang auf.

Aber er war schneller auf den Beinen und stapfte auf den Rand der Lichtung zu. Abbey rannte ihm hinterher, umfasste ihn am Arm, darum bemüht, ihn zurückzuhalten.

„Bitte, tu ihr nicht weh! Sie hat es doch nicht so gemeint!“ Ihre Angst vermischte sich mit heißen Tränen.

„Sie hat alles kaputt gemacht!“, stieß er wütend hervor, hielt vor einem Baum, setzte das Tier ab und band es an einem Ast fest. Dann griff er nach Abbeys Hand und zog sie mit sich zur Decke zurück.

„Bitte, Eames“, schluchzte sie.

„Missy ist ein Hund. Es wird ihr nicht schaden, auf uns zu warten.“

In dem Moment begann das Tier hysterisch zu kläffen.

„Verdammt“, fluchte der Captain. „Hätte ich dir doch keines dieser Biester gekauft!“

Vor der Picknickdecke hielt er an und starrte auf das Malheur. Abbey konnte seine Enttäuschung fast mit Händen greifen. Er bückte sich, ergriff die Decke an zwei Enden und zog fest an. Geschirr und Essen purzelten durcheinander und landeten auf dem Boden. Die junge Frau beobachtete ihn entsetzt und schluchzte laut auf.

„Du und dein Hund, ihr habt alles zerstört“, erklärte er ausdruckslos, wandte sich ab und ging.

„Eames“, rief sie und rannte ihm hinterher, packte ihn wieder am Arm. „Es tut mir so leid! Das wollten Missy und ich nicht! Bitte, sei nicht so erbost!“

Er hielt inne, wandte sich ihr zu und sah auf sie herab. Sein Blick war glasig.

„Sprechen wir nicht weiter davon“, murmelte er abwesend. „Hol den Hund. Wir fahren nach Hause.“

„Und der Picknickkorb?“

„Bleibt hier. Wir benötigen ihn nicht mehr.“

Ihr Herz wurde schwer, als sie ihren Gemahl losließ und geknickt zu dem kleinen, bellenden Hund lief, um ihn loszubinden.

An diesem Abend schickte Eames seine Frau fort, als sie kam, um mit ihm zu tanzen.

„Hier wirst du während der Überfahrt bleiben“, erklärte Eamon einige Wochen später und öffnete eine schmale Tür zu einer winzigen Kajüte. „Wenn uns der Wind keinen Strich durch die Rechnung macht, werden wir vor Sonnenuntergang in London anlegen.“

Abbey nickte nervös. Der schwankende Boden war ihr nicht geheuer. Auch bei ihren letzten Meeresüberquerungen war sie immer erleichtert gewesen, sobald sie wieder festes Land unter den Füßen hatte.

Es war ein früher Morgen Ende September und die beste Zeit, um nach London zu ziehen. Eine lange, abwechslungsreiche Saison lag vor Abbey und diese sehnte sich nach den ausschweifenden gesellschaftlichen Ereignissen, die bald ihre Tage füllen würden. Alles, was sie von der Beklemmung innerhalb ihrer Ehe ablenkte, ergriff sie mit fiebriger Begeisterung.

Als sie weiter in den Raum trat, streifte sie mit dem Oberarm unabsichtlich seine Brust, doch sie tat, als bemerkte sie es nicht und sah sich aufmerksam um. Die spärlich vorhandene Einrichtung bestand aus einem schmalen Bett, das am Boden fixiert war, einem Tisch, zwei Stühlen und einem kleinen Ofen.

„Die Freedom ist ein Handelsschiff, kein Passagierschiff“, erklärte er entschuldigend. „Es ist nur für einen halben Tag. Meinst du, du erträgst es?“

„Gewiss.“

Abbey wünschte, Missy wäre hier. Der kleine Hund würde sie auf andere Gedanken bringen. Doch Eamon hatte darauf bestanden, sie in ihrem Haus in Dublin zurückzulassen. Er war nicht davon abzubringen, dass London ungeeignet für das Halten eines Tieres sei. Jedes Argument dagegen wurde vehement abgeschmettert.

Mit einem Seufzen ließ sie sich aufs Bett sinken.

„Du könntest ein wenig schlafen“, schlug er vor. „Später werde ich nach dir sehen. Wir nehmen das Mittagsmahl gemeinsam ein. Ich verlange, dass du hierbleibst und keinen Schritt vor die Tür setzt, hast du mich verstanden?“

Die junge Frau nickte. „Untersagst du es mir außerdem, an Deck zu gehen?“

„Ja. Du bleibst hier. Es ist zu gefährlich.“

„Das verstehe ich nicht. Was genau?“

Er zog die Augenbrauen zusammen, als er sie streng musterte: „Erstens lehnen Seemänner Frauen an Bord ab. Sie bringen Unglück. Zweitens: Sollten sie dennoch erfahren, dass eine in ihrer Nähe ist, schürt das die Glut ihrer Leidenschaft. Drittens: Wenn sich ihnen dieses weibliche Wesen zusätzlich an Deck präsentiert, gibt es kein Halten mehr.“

Verständnislos suchte Abbey seinen Blick. „Halten wovor?“

Er schloss die Tür, trat näher. „Kannst du es dir nicht vorstellen?“

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sein Augenausdruck veränderte sich und er wurde zu einem Mann, den sie nicht kannte. Wieder entzündete sich Angst in ihr. Mit einem Schritt war er bei ihr, packte sie an den Schultern und drückte sie zurück. Mit einem leisen Aufschrei fiel sie nach hinten aufs Bett. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Captain an. Sein Gesicht schwebte wenige Zentimeter über ihrem. Mit den Knien stützte er sich auf der Bettkante ab, eine Hand bohrte sich neben ihrem Kopf in die Matratze.

„Eames, bitte“, flehte sie. „Ich habe verstanden.“

Er nahm den Blick nicht von ihr, hielt sie damit gefangen. Die darin enthaltenen Gefühle löschten ihre Angst aus. Langsam neigte er den Kopf und küsste sie auf die Stirn.

„Bleib bloß in der verdammten Kabine, Adeen“, murmelte er und richtete sich auf. „Widersprich mir nicht ständig. Ich will nur dein Bestes.“

Vollkommen durcheinander setzte sie sich auf und beobachtete ihn auf dem kurzen Weg zur Tür.

„Sperr ab!“, befahl er, bevor er diese hinter sich zuzog.

Obwohl er sich eindringlich darum bemühte, es zu verbergen, entging Abbey nicht, dass etwas Wildes und Raues unter der glatten, kultivierten Oberfläche ihres Mannes schlummerte. Ein ungeschliffenes Wesen, das er meisterhaft zu unterdrücken vermochte. Zumindest in ihrer Gegenwart. Nie hätte sie angenommen, dass er sie jemals mit ruhiger Kraft auf eine Matratze drücken würde. Heute hatte er es getan. Es hatte ihn nicht einmal angestrengt. Sollte er es irgendwann darauf anlegen, sie zu bezwingen, hätte er leichtes Spiel mit ihr. Die junge Frau konnte nur hoffen, dass sich sein Zorn niemals gegen sie richten würde.

Mit geschlossenen Augen rollte sie sich auf dem Bett zusammen und sehnte sich danach, sich endlich zwischen den Zerstreuungen, die London bot, auflösen zu können.

Erst dort am Grabe gewahrte er, was er verloren hatte…

Das Leben als verheiratete Frau gestaltete sich tausendmal besser, als Abbey es für möglich gehalten hätte. Debütantinnen waren einem strikten Reglement und Zeitplan unterworfen, doch Ehefrauen genossen jegliche Freiheiten, die ihre Gatten ihnen einräumten. Für Abbey gab es keinen Grund zur Klage, denn Eamon hielt sein Wort. Er beschwerte sich weder darüber, sie kaum zu Gesicht zu bekommen, noch über die horrenden Ausgaben, die das gesellschaftliche Leben mit sich brachte. Es war erforderlich, ihre Garderobe und alles, was dazugehörte, mehrfach aufzustocken. Er bezahlte die Rechnungen umgehend und ohne mit der Wimper zu zucken. Sie veranstaltete Bälle in ihrem eigenen Haus und er stand an ihrer Seite, um die Gäste zu begrüßen. Er avancierte auch hier zum Traum der Frauen, wohingegen sich die Männer über seinen Hang, stets von seiner Gattin zu schwärmen, wunderten. Es war unübersehbar, dass der Captain seine Gemahlin vergötterte. Trotzdem verkümmerte Abbeys Herz aufgrund seines Desinteresses gegenüber ihrer eigenen Person.

Auf dem Rückweg von einem Opernbesuch fasste Abbey den Entschluss, mit Eamon zu sprechen. Sie wollte, ja konnte nicht mehr auf diese Weise weiterleben. Sie begegneten einander kaum und wenn, hatte sie das Gefühl, ihn nicht besser zu kennen, als am Tag ihrer ersten Begegnung.

„Ist der Captain noch wach?“, wollte sie wissen, als sie sich in der Halle aus dem Mantel schälte.

„Soweit mir bekannt ist, ja, Mrs Mac Guaire. Er hat sich allerdings in seine Gemächer zurückgezogen.“

„Danke.“

Abbey reichte ihm die Handschuhe und begab sich in den oberen Stock. In ihrem Zimmer nahm sie den Hut ab und musterte sich ein letztes Mal kritisch im Spiegel. Obwohl die Stunde fortgeschritten war, wirkte sie frisch und munter. London schmeichelte eindeutig ihrem Teint.

Wenig später öffnete sie die Tür zum privaten Salon ihres Mannes. Seit jenem Tag mit Missy hatte er nicht mehr mit ihr getanzt und sie fühlte sich in seinem Reich unbehaglich, so, als hätte sie keinerlei Recht darauf, sich hier aufzuhalten. Diese Gedanken streiften sie, als sie eintrat und die Tür hinter sich schloss. Einige über den Raum verteilte Öllampen brannten, dennoch war das Zimmer leer. Hatte sich der Captain mittlerweile zu Bett begeben? Beklemmung erfüllte sie, trotzdem beschloss sie, keinen Rückzieher zu machen. Leise huschte sie weiter zur Schlafzimmertür. Diese war nur angelehnt und sie stieß sie vorsichtig auf. Eamon entledigte sich soeben seines Hemdes und warf es über einen Stuhl. Es war das erste Mal, dass sie einen nackten männlichen Oberkörper erblickte und sie hielt unvermittelt die Luft an. Angesichts der ausgeprägten Muskelberge auf seinen stattlichen Schultern und Oberarmen schluckte sie und ihre Knie wurden weich. Ein Keuchen löste sich von ihren Lippen und sein Kopf fuhr herum. Sekundenlang starrte er sie an, als überlegte er, wer sie war und woher sie kam. Dann hellten sich seine Züge auf und er schnappte sich das Hemd.

„Adeen“, murmelte er, „du solltest mich so nicht sehen.“

„Warum nicht?“, wollte sie wissen und lehnte sich an den Türrahmen. Beobachtete ihn dabei, wie er in die Ärmel schlüpfte.

„Das fragst du mich? Weil es unangemessen ist.“

„Aber warum ist es das?“

„Es ist für uns nicht vorgesehen, dass du mich so siehst.“

„Von wem vorgesehen, Eamon?“

Er erstarrte. „Nenne mich nicht so.“

„Aber es ist dein Name. Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, dass ich mich weigere, auf diese Weise weiterzuleben.“

„Wie genau?“ Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während er sie forschend betrachtete. „Willst du nach Galway zurückkehren? Meinetwegen, ich habe nichts dagegen einzuwenden. Meine wichtigsten Kontaktpersonen habe ich alle getroffen, die Tagesgeschäfte kann ich genauso gut von Irland aus erledigen. Abgesehen davon gibt es dort ohnehin etwas zu klären.“

„Nein, das meinte ich nicht.“

„Was dann, Adeen? Was könnte dich außerdem zu einer solchen Aussage verleiten?“

„Dieser verfluchte Name.“

Er riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. „Ich habe mich zweifellos verhört. Was sagtest du, Liebes?“

„Ich sagte, dass Adeen ein verfluchter Name ist und dass ich ab jetzt darauf bestehe, endlich mit meinem richtigen angesprochen zu werden.“

Zorn blitzte in seinen Augen auf. „Wir haben eine Abmachung, welche die Grundlage unserer Ehe darstellt. Wie ich dich rufe, ist Teil davon. Ich sehe nicht ein, mit dir deswegen zu verhandeln. Gibt es außerdem etwas, das du mir mitteilen willst?“

Aller Widerstand fiel angesichts seiner Kompromisslosigkeit in sich zusammen.

„Aber ich ertrage das nicht mehr! Ich kann nicht länger das Leben einer anderen Frau führen. Ich bin nicht sie, Eamon! Lass sie doch endlich hinter dir!“

Er ballte die Hände und seine Bauchmuskeln spannten sich an. Sie konnte es erkennen, da er das Hemd nicht geschlossen hatte.

„Du weißt nicht, was du da von mir verlangst!“

Hoffnung, ihm endlich näherzukommen, zuckte wie eine kleine Flamme in ihrem Herzen auf.  „Ich würde dir gerne helfen! Willst du es mir erzählen?“

Er schloss die Augen, schwankte. Doch dann spannte er sich noch mehr an, sodass die Sehnen seines Halses hervortraten. Jetzt bekam sie es mit der Angst zu tun.

„Verschwinde“, knurrte er und unterdrückte Wut knisterte in der Luft. „Ich werde dieses Gespräch vergessen. Morgen fahren wir fort wie bisher. Hast du mich verstanden, Adeen?“

Jedes seiner Worte fühlte sich wie Prügel an, die er auf sie niedersausen ließ, und sie zuckte darunter zusammen. Er wollte sie nicht verstehen, weigerte sich, sich die Mühe zu machen, darüber nachzudenken, wie es ihr erging, wie sie empfand.

„Ja, Eames“, lenkte sie weinend ein und wandte sich ab, floh in ihre eigenen Gemächer. Sie schluchzte hemmungslos und konnte sich lange Zeit nicht beruhigen. Erst als sie einen Plan gefasst hatte, fühlte sie sich besser. „Ich werde dich verlassen, Eamon Mac Guaire“, schwor sie sich und sprach es trotzig aus.

Dann wischte sie die Tränen ab und klingelte nach der Zofe.

„Wie war deine gestrige Abendgesellschaft“, wollte Eamon freundlich wissen, als sie am darauffolgenden Vormittag den Speiseraum betrat.

Sie ließ sich nicht anmerken, wie tief sie sein unüberhörbarer Hohn verletzte.

„Überaus unterhaltsam“, erwiderte sie. „Und wie war es bei dir?“

„Es gibt schlechte Nachrichten“, meinte er, wirkte aber nicht, als würden ihn diese belasten.

„Ja?“, wollte sie erstaunt, dass er sie an seinem Leben Anteil haben ließ, voller Neugier wissen. „Was ist passiert?“

„Eines meiner Schiffe wurde überfallen. Ich habe das erste Mal, seit ich als Reeder tätig bin, eine Fracht verloren.“

„Oh, das tut mir leid“, empörte sie sich. „Weiß man, wer es war?“

„Vermutlich Piraten. Heutzutage kann man das nicht so genau erkennen.“

„Hm.“ Abbey griff nach einem Toast und bestrich ihn.

„Es könnte ebenso gut ein spanisches oder französisches Schiff gewesen sein“, fuhr er fort und sie biss in die Brotscheibe.

„Was wirst du jetzt unternehmen?“

„Ich muss dem Befrachter die schlechte Nachricht seines Verlustes überbringen. Wenn du möchtest, darfst du mich begleiten.“

„Wohin?“

„Nach Galway.“

Abbey riss die Augen auf und starrte ihren Mann fassungslos an. „Deutest du damit an, dass diese Tragödie die Güter meines Vaters betrifft?“

„So ist es.“

Sie schnappte nach Luft. „Er wird außer sich sein.“

„Vermutlich.“

„Er wird dich mit seinen eigenen Händen ermorden.“

„Das wird ihm kaum gelingen. Abgesehen davon werde ich ihm vorschlagen, für die Hälfte des Verlustes aufzukommen.“

„Verfügst du denn über die nötigen Mittel?“

„Sicher. Nötigenfalls könnte ich einen Teil deiner Garderobe verkaufen.“

„Was willst du damit andeuten?“

Er lächelte sie freundlich an. „Ereifere dich nicht, Adeen. Ich habe nur einen Scherz gemacht.“

Statt einer Antwort biss sie wieder in den Toast und kaute nachdenklich.

„Ich ziehe es vor, hierzubleiben“, erklärte sie nach einer Weile.

„Es sei dir überlassen. Ich bin vermutlich innerhalb einer Woche zurück.“

Sie zuckte mit den Achseln. Es würde sie nicht stören, wenn er für immer fortbliebe. Es machte für sie keinen erheblichen Unterschied.

Mac Guaires Abreise wirkte sich positiv auf Abbeys Gemütszustand aus. Obwohl sie einander selten begegnet waren, hatte sie doch immer im Hinterkopf behalten, dass er nur ein paar Türen entfernt weilte. Nun gehörte ihr das komplette Haus. Sie könnte, wenn sie es denn wollte, in seinem Bett schlafen und er vermochte nichts dagegen zu unternehmen. Aber warum sollte sie das tun?

Fröhlich drehte sie sich vor dem Spiegel und richtete sich die venezianische Augenmaske. Für den kommenden Abend stand ein Maskenball auf dem Programm, den sie schon seit Tagen herbeisehnte. Die Vorstellung, nicht zu wissen, mit wem man tanzte, beschleunigte ihren Puls. Ihrer Ansicht nach gab es kein anderes gesellschaftliches Ereignis, welches diesen Ball an Verwegenheit überbot.

Ihre Erwartungen wurden von der Realität bei weitem übertroffen, ein Umstand, der selten eintraf. Die Blicke der Galane, deren funkelnde Augen und lächelnde Münder das einzige waren, was sie von sich preisgaben, hielten sie unentwegt in Atem. Sie malte sich aus, wie sie unter den Masken aussahen, welch einflussreiche Männer diese verbargen. Abbey lachte, tanzte und flirtete. Sie trank von der alkoholischen Bowle, die gereicht wurde, und hoffte, dass der Abend nie enden würde. Sie wünschte, für immer hierbleiben zu können und nicht an die Seite ihres Gemahls zurückkehren zu müssen, für den sie nicht existierte.

„Darf ich Euch ein weiteres Gläschen von der berauschenden Bowle bringen, Mylady?“, wollte ihre aktuelle Begleitung höflich wissen, wobei er sich vorbeugte und mit den Lippen ihr Ohr berührte.

Ihr Körper prickelte aufgrund der Nähe dieses geheimnisvollen Mannes.

„Besten Dank, momentan nicht. Zurzeit ersehne ich etwas frische Luft.“

Es war mittlerweile überaus stickig im Saal. Das Funkeln seiner Augen verstärkte sich und er bot ihr den Arm. Sie hängte sich bei ihm ein. In dem Moment wurden die Lichter gelöscht (bis auf die Kerzen der Luster, die zu hoch hingen, um schnell daran zu kommen) und ein Raunen schwoll durch die Menge. Ihr Begleiter zog sie mit sich an den Saalrand, der jetzt im Dunkeln lag.

„Was soll das?“, fragte Abbey erschrocken, als er sich zu ihr drehte.

„Das ist die Mitternachtseinlage bei einem Maskenball“, erklärte er und wieder berührte sein Mund ihr Ohr. Dann fühlte sie, dass er ihr einen sinnlichen Kuss darauf drückte.

„Und … und was kommt jetzt?“

„Für ein paar Minuten ist es gestattet, die Masken abzunehmen, ohne befürchten zu müssen, erkannt zu werden.“

„Weshalb sollte man das tun?“

Seine Hände legten sich auf ihre Schultern und drückten sanft zu. Hitze breitete sich von seinen Handflächen auf ihrer nackten Haut in alle Regionen ihres Körpers aus.

„Ich werde es Euch zeigen“, lächelte er und seine Zähne funkelten im Zwielicht. „Darf ich?“

Sie nickte und löste die Maske. Er tat es ihr gleich und klemmte sich beide zwischen die Beine. Im nächsten Augenblick hatte er sie in die Arme gezogen und presste seinen Mund auf ihren. Überrumpelt ließ Abbey es geschehen und wunderte sich über die Neugier, die zeitgleich in ihr erwachte. Es war erstaunlich angenehm, diesen fremden Mann zu küssen. Zweifellos wusste er von der Beschaffenheit des weiblichen Körpers, denn sie reagierte unerwartet heftig darauf. Niemals hätte sie angenommen, auf diese Weise empfinden zu können. Als würden Schmetterlinge durch ihren Bauch flattern und von dort in ihren kompletten Leib ausströmen. Ohne zu überlegen, klammerte sie sich an seine Schultern. Er drehte sie etwas, drängte sie an die Wand und sie keuchte auf. Das also war Leidenschaft. Endlich verstand sie, weshalb man vor ihrer gefährlichen Kraft warnte. Einmal entfacht war sie ein kaum zu bändigendes Feuer.

Als er sich von ihr löste, war sie enttäuscht. Seine Hand ruhte an ihrer Wange und sein Daumen streichelte sie sanft.

„Seid Ihr verheiratet?“, wollte er leise an ihrem Ohr wissen.

„Ja“, gestand sie und ärgerte sich einen Sekundenbruchteil später über ihre Aufrichtigkeit.

„Ausgezeichnet.“ Es schien ihn nicht zu stören. „Wünscht Ihr, mich erneut zu treffen?“

„Ja“, hauchte sie.

Dieser Mann besaß alles, wonach sie sich sehnte. Es hatte nicht lange gedauert, um das zu erkennen. Sie bemerkte, dass er in seine Hosentasche griff und etwas herauszog. Bebend vor Verlangen gewahrte sie, dass er eine Visitenkarte in ihr Dekolletee schob. Dabei streifte er ihre Brust, die sofort nach einer intensiveren Berührung verlangte. Schon trat er einen Schritt zurück und reichte ihr die Maske, die sie mit zitternden Händen befestigte.

„Tragt diese bei unserem baldigen Treffen“, raunte er ihr zu. „Kommt ins Countryside-Inn. Schickt mir eine Nachricht, wann.“

Er löste sich von ihr und war Augenblicke später zwischen den anderen Gästen verschwunden. Nach und nach wurden die Lichter wieder entzündet, doch Abbey lehnte an der Wand, zu geschwächt, um sich zu bewegen. Ununterbrochen erinnerte sie sich an das, was soeben geschehen war. Sein Kuss, seine Berührungen, seine Stimme. Sie hatte eine Affäre, so viel stand fest. Sie wunderte sich darüber, wie erhebend sich das anfühlte.

Auf der Visitenkarte prangten nur die Initialen K. M. über dem Schriftzug des Countryside-Inns und dessen Adresse. Abbey klemmte die Karte an ihren Schminkspiegel und starrte darauf, als ihre Zofe die Haare aufsteckte. Zwei Tage waren seit jener erregenden Begegnung vergangen und heute Abend würde sie die Bekanntschaft mit jenem Mann vertiefen. Als sie fertig war, steckte sie die Maske in ihre Tasche. Sie plante, diese erst vor der Hotelzimmertür aufzusetzen. Ihr geheimnisvoller Verehrer hatte ihr die Zimmernummer des Raumes verraten, 22, in welchem er sie erwarten wollte.

„Ich fahre zu einem Treffen mit Freundinnen ins Countryside-Inn“, erklärte sie dem Butler. „Sie müssen nicht auf mich warten. Es dürfte spät werden.“

„Sehr wohl, Mrs Mac Guaire.“ Der Diener verbeugte sich und half ihr in die Kutsche.

Abbey vermochte nicht stillzusitzen und rutschte nervös auf dem Sitz hin und her. Obwohl ihr Gewissen seit jener Nacht gegen ihre Neugierde ankämpfte, unterlag es beständig. Sie wusste, dass es falsch war, ihren Mann zu betrügen, doch sie beteuerte sich selbst gegenüber, dass sie dies nicht im Geringsten kümmerte. Denn die Frau, nach der ihr Gemahl verlangte, Adeen, blieb Eames treu. Sie, Abbey, war frei, zu tun, was sie wollte. Der Captain hatte auf jegliches Recht im Zusammenhang mit ihr verzichtet. Nichts verbot ihr, Spaß zu haben. Oh ja, sie war bereit. Was auch immer K. M. von ihr forderte, sie schwor sich, es ihm ohne zu zögern, zu geben.

Als die Kutsche mit einem Ruck hielt, wurde ihr ein wenig bange. Was, wenn Eamon entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch eines Tages dahinterkäme? Vermutlich würde er sie hart bestrafen. Besser sie dachte nicht daran, denn er würde es niemals herausfinden. Weshalb sollte er? Laut der an sie übermittelten Informationen weilte er unverändert in Galway, weit weg von hier. Aber auch wenn er in London wäre, würde er ihr nicht auf die Schliche kommen, da ihn nicht interessierte, was sie mit ihrer Zeit anstellte.

Der Kutschenschlag wurde geöffnet und Abbey stieg nervös aus. Doch sie ließ sich nichts von der inneren Unruhe anmerken und schritt mit erhobenem Haupt auf das Eingangsportal zu. Wie sie nebenbei wahrnahm, handelte es sich beim Countryside-Inn um ein prächtiges Hotel mit hohen Fenstern. Eilig, dennoch darum bemüht nicht aufzufallen, strebte die junge Frau der Treppe entgegen. K.M. hatte ihr geschrieben, dass sich der Ort ihres Stelldicheins im zweiten Stock befand.

Leise erklomm sie mit klopfendem Herzen die Stufen, welche mit einem dicken Teppich überzogen waren, der ihre Schritte dämpfte. Als sie einen langen Gang erreichte, atmete sie tief durch und wühlte in der Tasche nach ihrer Maske. Dann suchte sie die Türnummer 22. Als sie davor stand, verbarg sie die obere Hälfte ihres Gesichts hinter der extravaganten Tarnung und klopfte leise an. Sie hörte jemanden näherkommen und im nächsten Augenblick wurde die Tür geöffnet. Noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte der Fremde sie ins Innere gezogen und küsste sie stürmisch, während er die Tür schloss.

„Wie oft habe ich mir diesen Moment in den letzten Tagen ausgemalt“, gestand er schwer atmend und seine Hände machten sich an der Verschnürung ihres Kleides zu schaffen.

Mit gesenktem Kopf ließ sie es geschehen, erbebte, als er den Stoff auseinanderzog, von ihren Schultern und tiefer streifte. Als Nächstes half er ihr aus dem Schonkleid, dann widmete er sich dem Korsett.

„Diese verfluchte Mode ist ein einziges Hindernis“, brummte er und Abbey lächelte.

In einem verborgenen Winkel ihres Seins war das scheue Mädchen in ihr dankbar für die dadurch gewonnenen, wenigen Minuten, um sich auf das Kommende vorzubereiten. Trotzdem ging jetzt doch alles beängstigend schnell und sie schluckte die Enttäuschung darüber hinunter, dass K.M. sie nicht einmal nach ihrem Wohlergehen gefragt, geschweige denn, ihr etwas zu trinken angeboten hatte.

„Endlich“, seufzte er und riss das Korsett von ihrem dünnen Unterkleid.

Es war alles, was ihre Nacktheit vor seinen forschenden Augen verbarg. In Windeseile machte er mit dem Leibchen ebenso kurzen Prozess und half ihr, aus dem Kleiderberg zu steigen. Dann hielt er sie auf Armeslänge auf Abstand, während er sie eingehend musterte. Leise pfiff er durch die Zähne und sie errötete verlegen.

„Komm her“, bat er und sie trat näher, ließ sich von ihm wieder in die Arme ziehen.

Seine Lippen verbrannten ihren Mund und seine Handflächen hatten die gleiche verheerende Auswirkung auf jede Region ihres Körpers, über die sie strichen.

„Du bist wunderschön“, murmelte er und legte sie aufs Bett.

Abbey blickte ihn verschämt an und wandte sich schnell ab, als er seinerseits aus den Kleidern schlüpfte. Etwas in ihr verbot ihr, einen anderen Mann als ihren eigenen entblößt zu betrachten.

Ihr Liebhaber legte sich neben sie, beugte sich zu ihr und küsste sie, während seine Finger über ihren Körper spielten, um sie abzulenken und ihr dabei zu helfen, sich zu entspannen. Mittlerweile pochte ihr Herz so heftig, dass sie befürchtete, es würde aus ihrer Brust springen. Als er sich auf sie schob, bekam sie es mit der Angst zu tun.

„Mylord“, flüsterte sie bebend, „würdet Ihr bitte vorsichtig mit mir sein? Es ist mein erstes Mal.“

Sekundenlang war es beängstigend still, dann starrte er sie ungläubig an. „Wie bitte?“ Die Leidenschaft in seinen Augen erlosch.

„Ich habe noch nie …“

Langsam richtete er sich auf und wälzte sich von ihr. „Du sagtest, dass du verheiratet bist.“

„Das ist die Wahrheit.“ Sie setzte sich auf und zog die Beine an, dann schlang sie die Arme um ihre Knie. „Trotzdem habe ich nie …“

Er stieg aus dem Bett und wandte sich ab, da senkte Abbey den Kopf und starrte auf die Matratze, um ihn nicht ansehen zu müssen. Minuten verstrichen während er gedankenversunken auf und ab schritt. Plötzlich blieb er stehen und sie fühlte seinen Blick auf sich.

„Und du wünschst, dass ich …?“

Sie nickte und zuckte zusammen, als er fluchte.

„Tut mir leid, das ist mir zu heikel. Mit einer verheirateten Frau eine Affäre zu unterhalten, ist eine Sache. Einem Mann aber das Recht der ersten Nacht zu rauben, eine andere. Darauf werde ich mich nicht einlassen. Wir können uns gerne treffen, nachdem es passiert ist.“

Bitterkeit schwappte mit Galle vermischt in Abbeys Mund. Mit seiner Weigerung bestätigte er, dass sie vom Pech verfolgt wurde.

„Und jetzt komm her, damit ich dir in dein Kleid helfen kann.“

Zitternd und enttäuscht rückte sie vom Bett und schlich zu ihm. Doch bevor sie sich nach dem Unterkleid bückte, schmiegte sie sich an ihn, schlang die Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf tiefer.

„Bitte, mein Mann will es nicht. Es ist ihm egal, ob ich mit einem anderen schlafe.“ Ihre Stimme klang verzweifelt und sie verachtete sich insgeheim dafür. Wie tief war sie gesunken, dass sie nach der Aufmerksamkeit eines Fremden bettelte? Warum hatte sie zuvor nicht einfach den Mund halten können? Hätte sie sich doch lieber die Zunge abgebissen! Sie würde jetzt in seinen Armen liegen – Eamon, ihr Kummer, ihre Einsamkeit wären längst vergessen.

„Nein. Such dir einen anderen dafür.“

Er hob die Hände, um sich aus ihrer Umarmung zu befreien.

„Bitte, einen letzten Kuss“, flehte sie erstickt. „Schickt mich nicht fort ohne einen letzten Kuss.“

Er atmete tief durch und neigte den Kopf. Auf halbem Weg kam sie ihm entgegen und drängte sich enger an ihn. Er schlang seine Arme um sie und presste sie fest an sich, sodass sie jede Erhebung seines Körpers erspüren konnte. Welch ein wohltuendes Gefühl, diesem Mann so nahe zu sein! Ach, würde es niemals enden! Was gäbe sie dafür, diesen Augenblick aufhalten zu können!

Da wurde plötzlich, ohne Vorwarnung, die Tür aufgestoßen. Erschrocken zuckte sie zusammen und wich zurück, während K.M. herumfuhr. Ihr Herz begann zu rasen und sie bückte sich nach ihrem Kleid, um sich dahinter zu verstecken. Dabei erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf den Eindringling und Gänsehaut überzog ihre Haut. Eamon stand reglos im Türrahmen, sein Gesicht drückte Fassungslosigkeit aus. Das war zu viel. Derart entblößt auf frischer Tat ertappt vor ihm zu stehen, ließ sie erkennen, dass sie einem weitaufgerissenen, dunklen Schlund, der bereit war, sie zu verschlucken, preisgegeben war. Sie konnte sich kaum noch bewegen und musste sich zwingen, sich aufzurichten. Mühevoll kam sie in die Höhe und gewahrte, dass sich sein Gesichtsausdruck verändert hatte. Der unverhohlene Schmerz, der sich darin spiegelte, raubte ihr nahezu die Sinne. Er schwieg, stand vollkommen still und musterte sie unverwandt. K.M. nutzte diesen Moment der Desorientierung und schlüpfte eilig in seine Hose.

„Dein Mann?“, wollte er beiläufig von Abbey wissen und sie nickte matt.

„Es ist nichts geschehen“, erklärte er und schnappte sich sein Hemd. „Genaugenommen waren wir just dabei, uns zu verabschieden. Ihr könnt es überprüfen.“

Ihr Beinahe-Geliebter klemmte sich die Stiefel unter den Arm, quetschte sich am Captain vorbei und stürmte von dannen.

Abbey hielt das Kleid mit ihrem Kinn vor ihren Körper und löste die Maske. Es stellte eine Herausforderung dar, denn sie zitterte mittlerweile wie Espenlaub. Achtlos ließ sie ihre Tarnung fallen, bevor sie den schützenden Stoff wieder enger um sich zog. Ihr Herz trommelte in ihrer Brust und sie überlegte, weshalb er nichts sagte. Warum schrie er sie nicht an? Schüttelte sie oder ergoss auf andere Weise seinen Zorn über sie? Sie biss die Zähne zusammen und wagte einen weiteren Blick zu ihrem Mann. Der hatte sich noch immer nicht bewegt, doch etwas geschah hinter seiner Stirn. Die Wärme seiner Augen erlosch und machte eisiger Kälte Platz. Abbey schauderte und beobachtete mit aufsteigender Panik, wie er sich abermals in einen Unbekannten verwandelte. Eamons Haltung veränderte sich langsam. Harte Linien klammerten seinen Mund ein und verstärkten die maskenhafte Glätte, welche sein Antlitz wie eine Gesteinsschicht überzog. Es war fürchterlich! Er war furchterregend und ihre Lunge presste sich so fest zusammen, dass sie kaum noch Luft bekam. Hilfe!, schrie es in ihr und sie wollte sich nach einem Fluchtweg umsehen, doch hielt er sie in seinem Bann gefangen, aus dem sie sich nicht befreien konnte. Sein Blick wanderte höher und dann sah er sie an. Jegliches Wohlwollen, alle freundlichen Gefühle für sie waren aus seinen Augen getilgt. Zwei eisigen Gletschern gleich funkelten sie und übertrugen ihre Kälte direkt in Abbeys Herz. Wenn er sie berührte, würde sie erfrieren, davon war sie felsenfest überzeugt.

„Mach dir nicht die Mühe, dich anzukleiden, Abbeygail“, sagte er emotionslos und nannte sie das erste Mal bei ihrem richtigen, vollen Vornamen. „Von mir aus kannst du hierbleiben. Es besteht für dich kein Anlass, nach Hause zu kommen.“

Sein Zorn hätte sie weniger geängstigt als diese tödliche Gelassenheit, die davon zeugte, dass er jegliche freundliche Regung abgeschüttelt hatte. Das hatte sie nicht gewollt. Himmel, was hatte sie getan?!



[1]

                        The water is wide, schottisches Volkslied