Erstes Kapitel

In dem ich versteigert werde und mit einem fremden Mann in eine Kutsche steige

Im Jahre 1789

Ich spüre den Blick meiner Tante. Sie taxiert mit ihren Augen jeden Zoll meines Körpers, so, als wäre ich nackt und trüge nicht jenes festliche Kleid, mit dem man mich allabendlich herausputzt. Der schwache Luftzug, den sie verursacht, als sie den Bühnenvorhang wieder zurückgleiten lässt, streift meine Wange und der Hauch schweren Parfums kitzelt sekundenlang meine Nase.
„Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt“, flüstert mir Tante Clara auf dem Weg zur Mitte der Bühne ins Ohr, wo sie mich wie einen Gegenstand abstellt. „Du wirst uns heute Glück bringen.“ Angespannt lausche ich ihren Bewegungen, als sie sich eilig in den Hintergrund zurückzieht.
Kaum sind ihre Schritte verhallt, wird der schwere Vorhang, diesmal mit Schwung, aufgerissen und wirbelt die Luft erneut auf. Das leise Knarzen der Seile beschreibt mir seinen Weg. Doch mich lenken hunderte Augenpaare, die sich augenblicklich auf mich heften, davon ab, seine stille Reise zu verfolgen. Ich muss das Publikum nicht sehen, um zu spüren, wie mich hunderte Blicke, gierigen Händen gleich, abtasten und mein Kleid sinnbildlich in Fetzen reißen. Ich kämpfe gegen den Drang an, die Arme um mich zu schlingen, um mich vor ihnen zu verstecken. Ja, ich habe gelernt, alles zu ertragen und gleichzeitig mein Bestes zu geben. Dennoch richten sich die winzigen Härchen auf meinen Unterarmen auf und Gänsehaut überläuft meinen Körper, lässt mich schaudern. Jemand auf einer Galerie hustet, das von Opernbesuchern stets verursachte Rascheln schwillt sekundenlang an. Es ist das allabendliche Vorspiel für die atemlose Stille, die danach folgt. Sie dauert zumeist zwei Takte, dann senkt der Dirigent den Taktstock und das Orchester beginnt zu spielen. Gefangen im Augenblick, stehe ich jetzt wie erstarrt. Im mich umgebenden Schweigen hämmert mein rasender Puls umso lauter, pocht schmerzhaft gegen meine Schläfen. Aber ich lasse mir wie stets nicht anmerken, wie nachhaltig mich die Wollust der hier versammelten Menschen einschüchtert. Letzten Endes kann ich nicht sicher sein, ob die auf mich einwirkenden Schwingungen nicht nur Einbildung sind. Es wäre möglich, denn ich bin blind. Mir fehlt der überaus wichtige Sehsinn, um alle auf mich einprasselnden Eindrücke korrekt deuten zu können. Wie ich ihn vermisse! Täglich, stündlich, jeden Augenblick. Doch es ist müßig, darüber zu trauern. Vielmehr muss ich mich auf das Publikum konzentrieren, das eine Stange Geld dafür bezahlt hat, um mich heute singen zu hören. Seit dem Einsetzen meiner Erinnerungen führt man mich vor, fast jeden Abend. Die Glieder dieser schier endlos langen, aus Konzerten bestehenden Kette reihen sich nahtlos aneinander. Ich kenne nichts anderes. Meinte Tante betont, es sei mir vorherbestimmt, zu singen. Mehr würde man von mir nicht erwarten und ich sicherte mir dadurch ein gutes Leben. Ein weit besseres, als die meisten anderen Menschen unserer Schicht.
Als kleines Mädchen fühlte ich die harte, raue Mauer einer Straßenecke an meinem Rücken und roch ihren feuchten Stein, wann immer ich Atem schöpfte. Ich vernahm vorbeieilende Schritte und spürte, wenn jemand stehen blieb, um mir zu lauschen. Die Hitze der mich umringenden Körper kroch mir unter die Haut und trieb mich an, mein Bestes zu geben. Nur so konnte ich sie zufriedenstellen, ihrem Tadel entkommen. Als ich älter wurde, stiegen Tante Clara und Onkel Stefano mit mir in billigen Absteigen ab, in denen es unerträglich nach Schweiß und Alkohol stank. Die dort vorherrschende stickige Luft erschwerte mir das Atmen und steigerte meine Ängste. Mein Orchester dieser furchterregenden Nächte bestand aus dem losen Klanggemisch, das sich aus dem Klirren schwerer Bierkrüge, Rülpsen und zotigen Zurufen zusammensetzte. Wie ich es hasste, vor diesen rohen Menschen zur Schau gestellt, ja, ihren Augen schutzlos preisgegeben zu werden! Doch ich schwieg, beschwerte mich nicht darüber. Niemandem erzählte ich, dass ich fühlen und erahnen konnte, was um mich geschah. Mein fehlendes Augenlicht scheint sie annehmen zu lassen, ich wäre für sämtliche Ereignisse blind. Sie wissen nichts von den tausenden Hinweisen, die meine Umwelt ausstrahlt und die mir bruchstückhaft etwas von jenem Leben vermitteln, von dem ich auf grausame Weise abgeschnitten bin.
All das geht mir blitzschnell durch den Kopf, während ich allein in der Mitte der Bühne stehe und auf meinen Einsatz warte.
Die ersten Töne des Cembalos erklingen. Nervosität durchzuckt mich. Gleich ist es so weit! Angespannt konzentriere ich mich auf die innere Quelle, der meine Stimme entspringt. Ich vermag sie weder näher zu beschreiben noch zu lokalisieren, dennoch ist sie da und sprudelt wie ein nie versiegender Fluss, benetzt meine Kehle. Gemeinsam mit der unter Opfern erlernten Singtechnik ermöglicht sie meiner Stimme, die Menschen in den Bann zu ziehen. Wer ahnt schon, wie viele Stunden Übung es benötigt, damit mein Körper der vollendete Resonanzkörper für sie wird? Wie lange wird es noch dauern, bis sie sich durch mich hindurch zu ihrer gesamten Schönheit entfalten kann, so dass sie frei und ungehindert hinausströmt, alle Widrigkeiten überwindend? Als wäre sie eine Gefangene auf dem Weg in die Freiheit, stürzt sie auch jetzt, von einer Melodie getragen, in den Raum. Wie immer verzaubert sie meine Zuhörer. Doch auch mich trägt die Melodie, befreit meinen Geist, lässt ihn ungebunden durch Raum und Zeit schweben. Vielleicht könnte man meine Empfindung auf diese Weise umschreiben: Ich bringe mich der Musik als Opfergabe dar, indem ich mich einfach auflöse.
Der Applaus schwillt an und ich sinke mechanisch in einen tiefen Knicks, dabei schwanke ich ein kleines bisschen. Hoffentlich entgeht dem Publikum, wie müde ich bin. Normalerweise erwachen bei dem frenetischen Klatschen und Fußtrommeln sämtliche Lebensgeister in mir. Aber an diesem Abend gelingt es dem Jubel überraschenderweise nicht, die Erschöpfung aus meinen Gliedern zu verscheuchen. Kurz überfällt mich Angst. Was werden Tante und Onkel sagen, sollten meine Kräfte nachlassen?
Jetzt bleibt mir jedenfalls keine Zeit, um länger darüber nachzudenken, und ich lächle genauso, wie man es mir beigebracht hat. Gleichzeitig harre ich jenes Augenblicks, in dem der Vorhang fällt. Normalerweise erwartet mich meine Tante hinter den Kulissen, um mich, lange bevor die schweren Stoffbahnen zu schwingen aufgehört haben, in die Garderobe zu führen. Doch heute geschieht nichts dergleichen und ich spitze meine Ohren auf der Suche nach ihren Schritten. Um mir das aufsteigende Unbehagen nicht anmerken zu lassen, knickse ich ein weiteres Mal. Wo versteckt sich Tante Clara? Warum fällt der Vorhang nicht und weshalb bleibt das Publikum sitzen, als wäre die Vorstellung nicht längst zu Ende? Angespannt versuche ich, trotz des unverändert donnernden Applauses, zu erlauschen, was auf der Bühne, direkt um mich herum, geschieht. Endlich spüre ich die Vibration von Schritten und erkenne den Gang meines Onkels. Was hat das nur zu bedeuten? Warum kommt er und nicht meine Tante? Normalerweise tritt er nie ins Zentrum des Geschehens und hält sich im Hintergrund auf, wo er darauf achtet, dass alles wie am Schnürchen läuft. Umso mehr wundere ich mich über die Nachlässigkeit der Bühnenarbeiter, die den Vorhang völlig vergessen zu haben scheinen, und die unterlassene Beschwerde meines Onkels, kurz bevor er notgedrungen selbst Hand anlegt.
Das Klatschen verebbt und löst sich in einer undefinierbaren Spannung auf. Unheilvoll senkt sie sich auf mich und verstärkt mein Unwohlsein. Eine dunkle Vorahnung rumort in meinem Magen und wie so oft wünsche ich mir, sehen zu können, was gerade passiert! Habe ich einen Fehler begangen? Augenblicklich wird mir siedend heiß und Furcht schüttelt mich. Himmel, habe ich einen Einsatz verpasst? Mit zunehmendem Entsetzen versuche ich, mir jedes Detail der Vorstellung in Erinnerung zu rufen. Doch die ist, wie immer, an mir spurlos vorbeigezogen. Das habe ich nun davon! Weshalb schwirren auch meine Gedanken herum, anstatt an Ort und Stelle zu bleiben? Ja, um Himmels willen, ich muss einen schweren Fehler begangen haben! Gleich werde ich mit faulen Eiern und Unrat beworfen. Ich wäre nicht die Erste, der das passiert. Innerlich wappne ich mich und presse die Arme an meine Seiten, senke den Kopf, um mein Gesicht zu schützen. Warte. Balle hinter meinem Rücken die Fäuste, spanne mich an, bereit, jederzeit zu fliehen. Eiskalt überkommt mich die Erkenntnis, dass es keinen Ort gibt, der mir als Unterschlupf dienen könnte, denn ich vermöchte ihn gar nicht zu finden. Nichts würde mir Schutz bieten, weder die kleinste noch die größte Nische. Meine Verwirrung steigert sich, als mich kein Wurfgeschoß trifft. Die Spannung wächst.
Endlich, meines Erachtens viel zu spät, tritt mein Onkel hinter mich und umspannt mit seinen Händen meine Schultern. Obwohl sein Griff hart ist, atme ich erleichtert auf. Wenigstens stehe ich jetzt nicht mehr mutterseelenallein im Zentrum der Aufmerksamkeit. Da drücken seine Finger fester zu, so fest, bis es schmerzt, und sie erzeugen in mir das vage Gefühl, er wolle meine Flucht verhindern. Doch wie sollte es mir möglich sein zu fliehen? Und wovor? Er weiß um meine Hilflosigkeit und obwohl ich in der Vergangenheit mehrfach liebend gerne davongelaufen wäre, habe ich es aus offensichtlichen Gründen nie versucht. Auch jetzt wäre es ein Ding der Unmöglichkeit; denn nach nicht einmal fünf Schritten würde ich gegen eine Wand prallen oder gar in den Orchestergraben stürzen. Sollte dies aufgrund eines Wunders nicht passieren, standen die Chancen gut, mich in einem der Seile, die hinter der Bühne gespannt sind und die Kulissen tragen, zu verheddern. Es ist demnach völlig unnötig, mich auf diese Weise zu umklammern. Dort, wo die Handflächen meines Onkels mich berühren, bildet sich Nässe. Ich schlucke den Ekel hinunter. Erschrocken zucke ich zusammen, als Onkel Stefano zu sprechen beginnt: „Meine hochverehrten Herren, geschätztes Publikum. Wie Ihr wisst, ist dieser Abend längst nicht zu Ende und der Höhepunkt steht kurz bevor.“ Seine Stimme vibriert vor Aufregung. Tatsächlich klingt er einen Halbton höher als sonst. Indessen bleibt mir keine Zeit, mich weiter darüber zu wundern, denn mir schießen unzählige Fragen wild durch den Kopf: Weshalb ist das Konzert jetzt nicht vorbei? Was habe ich damit zu tun und aus welchem Grund stehe ich nach wie vor hier, den Blicken aller ausgesetzt? Warum hat man mich nicht über diese Planänderung informiert, mich nicht darauf vorbereitet? Was könnte … Vereinzeltes Lachen weht aus dem Zuschauerraum zu mir. Eine winzige darin enthaltene Nuance verursacht kalte Schauer, die meine Wirbelsäule entlangrieseln.
„Ich hoffe, Ihr habt die letzten Tage dazu genutzt, zu überschlagen, welchen hübschen Betrag Euch unsere schöne, liebreizende Dana für eine Nacht wert ist. Für ihr erstes, jungfräuliches Beisammensein mit einem Mann, wohlgemerkt. Seid Ihr bereit, dafür ein ordentliches Sümmchen springen zu lassen?“ Für die Spanne eines Herzschlags begreife ich nicht, was er damit meint. Doch dann bohren sich seine Worte wie Dornen in mein Herz. Mir bleibt die Luft weg. Mühsam ringe ich mir jeden Atemzug ab. Langsam, zögernd wie die Dämmerung im Herbst, beginne ich zu verstehen: Der Mann, der sich als mein Onkel ausgibt, will mich verkaufen, mich für eine Nacht dem Höchstbietenden ausliefern!
Angst und Schrecken machen sich in mir breit – mein Magen verkrampft sich, ein bitterer Geschmack füllt meinen Mund. Steif wie ein Stock stehe ich, wanke nicht, obwohl in mir alles zerbricht. Ja, auf mich ist wie immer Verlass. Onkel Stefano kennt mich. Ich weine nie und werde auch heute nicht damit beginnen. Sein Griff verstärkt sich und seine Finger bohren sich noch mehr in meine Arme. Da keimt in mir der Gedanke, meine Unerschütterlichkeit könnte ihm vielleicht einen Strich durch die Rechnung machen. Bezahlen die Männer einen höheren Preis für ein schluchzendes, sich wehrendes Mädchen? Ist es diese Reaktion, zu der er mich mit seiner versteckten Grobheit treiben will? Der plötzlich aufsteigende Hass auf ihn vermittelt mir Kraft. Niemals werde ich vor ihm und diesen grausamen Männern in Tränen ausbrechen! Nie! Und wenn er mich vor ihnen auf beide Wangen schlägt und mir das Kleid vom Leib reißt! Ich werde nicht um Gnade betteln! Da spüre ich, wie mich ein vertrautes Gefühl erfasst, ein Zustand, der mir schon als kleines Mädchen dabei geholfen hat, tapfer zu sein und nicht zu weinen. Dieses Gefühl hat mich wie eine Umarmung umschlungen, mein Verlangen zu schreien überwunden. Auch meinen Verwandten ist mein Verstummen bestens bekannt. Sie nützen es stets für ihre Zwecke und ich wehre mich nicht. Auch jetzt nicht. Obwohl meine Welt einstürzt, gebe ich keinen Mucks von mir. Seitdem ich mich erinnern kann, bin ich Tante und Onkel auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen. Nicht ein einziges Mal habe ich in all den Jahren den Versuch unternommen, ihnen zu entkommen. Auf mein stoisches Ausharren bauen sie vermutlich auch heute Abend.
Während sich die Angst in mir ausbreitet und mich zusätzlich lähmt, lächle ich, so, als beträfe die schreckliche Demütigung nicht mich, sondern eine andere, fremde Person – so, als handle es sich nicht um mich, die hier an den Höchstbietenden verhökert werden soll.
Mein Kopf fühlt sich wie ein Schwamm an, ich verfolge nur nebenbei, wie die Angebote in die Höhe schnellen, wie Männerstimmen horrende Zahlen rufen. Insgeheim bete ich für ein Wunder, für eine wundersame Rettung aus dieser Schmach. Die Stimmung heizt sich zunehmend auf, der Gestank von Begierde und Schweiß tränkt die Luft und dringt unverschämt auf mich ein. Da stößt mich eine plötzlich eintretende Stille in die Gegenwart zurück.
„Gratulation an den unbekannten Herrn in der vorletzten Reihe!“
Die Worte treffen mich wie ein heftiger Schlag, dessen Wucht mich erbeben lässt. Ich schwanke und hoffe, meinem Onkel, der mich unverändert festhält, entgeht das heftige Zittern.
Im Bruchteil einer Sekunde erkenne ich, tief in mir längst mit einem hinterhältigen Verrat gerechnet zu haben. Obwohl meine Tante und mein Onkel mir Essen reichten und mich kleideten, gaben sie mir nie ein Gefühl der Sicherheit. Ja, genaugenommen hat sich unsere Beziehung immer wie ein Handel angefühlt. Wie bitter, die Rechnung jetzt präsentiert zu bekommen! Ich schlucke würgend.
Beschämende Zurufe ertönen um mich herum, als er mich packt und von der Bühne direkt in die Garderobe zerrt. Nur mit Anstrengung gelingt es mir, mich aufrecht zu halten, so groß ist meine Angst. Meine Knie sind weich wie Butter und ich fürchte, sie könnten jeden Moment unter mir wegschmelzen.
„Zieh dich um!“, befiehlt er ohne das geringsten Anzeichen von Mitgefühl. „Wir wollen deinen Freier nicht warten lassen. Sobald er bezahlt hat, wirst du freiwillig mit ihm gehen und tun, was er verlangt. Hast du verstanden?“
Meine Beine scheinen sich unter mir aufzulösen, deshalb taste ich nach einer Stuhllehne und klammere mich an sie, nicke ergeben.
„Tina wird dir helfen“, fügt er knapp hinzu. Ich höre seine Schritte, die Tür schlägt hinter ihm zu.
Mit einem Zischen entweicht mein Atem, den ich unwillkürlich angehalten habe.
Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, bevor dich die Hölle verschlingt! Das hast du nun von deiner Unterwürfigkeit und dem Unwillen, dich zu wehren! Warte nur ab, in ein paar Stunden wirst du wissen, wie es sich anfühlt, die Dirne eines Mannes zu sein!
Mit geballten Fäusten kämpfe ich gegen die flüsternden Stimmen in mir an.
Unverändert wie betäubt, löse ich dennoch das breite Stoffband, welches unterhalb meiner Brüste verläuft und an meinem Rücken zu einer Schleife gebunden wurde. Als sich die Tür öffnet, erkenne ich Tina anhand der Schwingungen, die sie aussendet. Sie ist einige Jahre jünger als ich und ebenfalls eine begabte Sängerin. Das Talent für die Musik liegt, laut Onkel Stefano, seit Generationen in unserer Familie. Es gibt keinen, der unseren Familiennamen trägt und nicht außergewöhnlich musikalisch wäre.
Tina plaudert ausgelassen, als sie mir aus dem Kleid hilft, aber ich bin zu nervös, um ihren Erzählungen zu folgen. Sicherlich ahnt sie nichts von der mir bevorstehenden Marter. Was genau geschehen wird, weiß ja nicht einmal ich selbst. Schon die Vorstellung, mich mit einem fremden Mann allein in einem Zimmer aufzuhalten, ist beängstigend genug. Bisher war ich stets in Begleitung meiner Verwandten, wenn sich Unbekannte in der Nähe aufhielten. Selbst das Bett teilte ich immer mit mindestens zwei Geschwistern. Aber jetzt … Die Aussicht, jemandem, den ich nicht kenne, völlig ausgeliefert zu sein, raubt mir den Verstand!
Als ich endlich in mein Tageskleid gehüllt bin, verlässt Tina den Raum. Resigniert sinke ich auf den Stuhl, falte die Hände im Schoß und suche krampfhaft nach einer Ablenkung. In meinem Kopf hämmert es „Verrat, Verrat!“, doch ich versuche, es nicht zu beachten. Stattdessen lenke ich meine Konzentration auf Mozart und seine neuartigen Kompositionen. In vielerlei Hinsicht hat er die Opernwelt verändert, hat ihr sogar eine bis vor kurzem unvorstellbare Zukunft eröffnet, von der auch ich nun als Sängerin profitiere.
Mozart besitzt die Frechheit, die Kastraten, welche bis dahin die weiblichen Rollen sangen, durch Sängerinnen zu ersetzen. Durch Frauen aus Fleisch und Blut mit wunderbaren Stimmen. Doch diese Erneuerung führte zu einem alles erschütternden Skandal. Onkel und Tante haben sich schon vor Monaten über die Unverfrorenheit des Salzburgers aufgeregt, einfach so mit den Traditionen der Musikwelt zu brechen. Mit hochroten Gesichtern haben sie ihn angeklagt, unserer Familie die Lebensgrundlage zu entziehen. Bis heute habe ich nicht verstanden, weshalb ihm dies gelingen sollte. Immerhin gibt es ja mich, Tina und eine Handvoll weitere Schwestern, die alle erpicht darauf sind, Mozarts Opern zu singen. Als ich meine Tante auf diesen Sachverhalt hinwies, beschimpfte sie mich als dumm und ungebildet. Wahrscheinlich hat sie recht und meine Unwissenheit verhindert, dass sich mir die Hintergründe erschließen. Ob das der Grund ist, weshalb mich meine Verwandten kaum aus den Augen lassen? Dazu kommt, dass sowohl Tante als auch Onkel immerzu wiederholen, welch großes Glück ich eines Tages bringen würde. Ob sich diese Prophezeiung heute erfüllen und sich ein Geldregen über sie ergießen wird?
Langsam nehme ich meine Umgebung wieder wahr, ich spüre einen bitteren Geschmack im Mund.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wird die Tür aufgestoßen und ich zucke erschrocken zusammen. Bevor ich mich fangen kann, poltert Onkel Stefano herein. Obwohl mein außer Rand und Band geratener Herzschlag die meisten Geräusche übertönt, bemerke ich die Anwesenheit von zwei weiteren Personen, die hinter ihm das Zimmer betreten haben. Bei einem von ihnen handelt es sich vermutlich um jenen Wüstling, der mich gekauft hat. Diese Vorstellung erzeugt in mir jene Ängste, dich mich überfallen, wenn ich an einen fremden Ort gebracht werde. Der Mann, den ich bisher Onkel genannt habe, ergreift meine eiskalte Hand, zieht mich in die Höhe und zu einem Tisch, dessen scharfe Kante sich hart in meine Oberschenkel drückt.
„Du musst hier unterschreiben“, erklärt er knapp. Verständnislos runzle ich die Stirn. Ist ihm entfallen, dass ich niemals schreiben gelernt habe? Wie auch?
„Warte, ich helfe dir.“ Als hätte er meine Gedanken erraten, zwängt er eine Feder zwischen Mittel- und Zeigefinger meiner rechten Hand und führt sie tiefer. Dann wölbt er seine verschwitzte Hand über meine. Ich höre das Kratzen des Federkiels auf dem Papier. Es erstaunt mich, wie leicht es ist, seinen eigenen Untergang zu besiegeln. Dennoch kann ich mir nicht erklären, wofür meine Unterschrift benötigt wird. Ich habe keine Rechte. Genaugenommen bin ich unfrei wie eine Sklavin. Der Beweis für meine Machtlosigkeit ist kaum eine Stunde alt. Schon nimmt er mir den Federkiel ab, umschließt meinen Oberarm und dreht mich um.
„Sie gehört Euch“, sagt er und schubst mich auf jemanden zu.
Der schnelle Stoß überrascht mich und ich stolpere. Im letzten Moment unterdrücke ich einen spitzen, erschrockenen Aufschrei. Noch bevor ich falle, umschließen kräftige, riesige Hände meine Schultern und verhindern meinen Sturz. Obwohl mich die rettende Berührung vor Angst erzittern lässt, entgeht mir die fast sanfte Art, mit der er mich hält, nicht. Sekundenlang dehnt sich schreckliche Stille zwischen uns aus und ich hole zitternd Luft.
„Würdet Ihr bitte mit mir kommen?“ Die dunkle Stimme des Fremden schwebt von weit oben auf mich herab. Die Stunde der Wahrheit ist angebrochen. Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr. Da ich keine andere Wahl habe und die Anwesenheit meines Onkels hinter meinem Rücken wie eine Drohung im Raum steht, nicke ich ergeben. Maßlose Furcht wütet wie ein wildes Tier in meinen Eingeweiden. Als ahnte er, wie es mir ergeht, lockert er den Griff und hängt meinen Arm bei sich ein. Die muskulöse Härte seines Unterarms unter meiner Handfläche besiegelt meine Ausweglosigkeit. Bisher hat mich niemand außer meinen Familienmitgliedern berührt. Eine plötzliche Erkenntnis lässt mich schaudern: Der Fremde, der mich für die kommende Nacht mit sich nimmt, scheint gänzlich aus Stahl zu bestehen.
Nie zuvor ist mir der Weg durch die schmalen Gänge des Theaters unendlich lang und gleichzeitig viel zu kurz erschienen. Panisch wünschte ich, er würde niemals enden, während ich andererseits ersehne, die bevorstehende Marter längst hinter mir zu haben. Da weht mir frische Abendluft ins Gesicht, als wir ins Freie treten. Meine Chancen auf Rettung schwinden mit jedem weiteren Schritt, genauso wie die Hoffnung, aus einem Albtraum zu erwachen. Ein Schwächeanfall lässt mich taumeln und ich sinke für den Bruchteil einer Sekunde gegen den Mann, der mich gekauft hat. Meine Wange streift seinen harten Oberarm für einen flüchtigen Augenblick. Er hält an, gibt mich frei, nur um sofort seinen Arm um meine Taille zu schlingen und mich enger an sich zu ziehen. Obwohl ich ihm für diese Nacht gehöre, bedrängt er mich nicht, hilft mir inmitten der Unsicherheit meines zerbrochenen Daseins. Sein herbes Parfum brennt sich in meine Sinne. Zweifellos werde ich mich für mein restliches Leben an ihn und diesen Augenblick erinnern. Unwiederbringlich verwebt er sich mit den letzten kostbaren Minuten meiner Unberührtheit. Bald wird er mir alles genommen haben! Und danach? Was wird danach aus mir werden? Wird er mich auf die Straße werfen oder zu meinem vermeintlichen Onkel zurückbringen?
Wer sagt, dass du die kommenden Stunden überhaupt überlebst? Du wirst in der Gosse verbluten! Wärst nicht die Erste!
Zum Schwindel gesellt sich Übelkeit. Nein! Nein! Nein! Hilfe! Warum rettet mich denn niemand!
Wir halten an und ich höre, wie eine Kutschentür geöffnet wird. Mit aller Kraft kämpfe ich dagegen an, in Tränen auszubrechen.