Prolog
„Nein! Du elender Schuft!“
Die Stimme seiner Mutter schallte durch das offene Fenster bis in den Garten hinaus, strich über die langen Gräser hinweg, kroch zwischen Sträuchern hindurch und spürte ihn in seinem Versteck auf. Ein Ton schwang in ihr, der sich Rohan besorgt aufrichten ließ.
„Wie kannst du nur?“
Die Art, wie sie es rief, versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Obwohl er keine Erklärung für die Aufregung seiner Mutter hatte, wusste er instinktiv, dass es ernst war – anders als die Wortgefechte, welche seine Eltern normalerweise führten. Behände sprang er zwischen den Büschen hervor, kämpfte sich durch das hohe Gras und gelangte auf die gemähte Rasenfläche vor Roxburghe-Hall. Mittlerweile konnte er auch die Stimme seines Vaters, des Dukes of Roxburghe, hören, aber nicht verstehen, was er sagte, da er leise sprach.
„Eine Engländerin? Eine englische Hure?“, kreischte seine Mutter außer sich.
Rohan schlich näher.
„Habe ich recht verstanden und du liebst eine englische Hure?“
„Ja, ich liebe sie.“
In der Zwischenzeit hatte Rohan das offene Fenster erreicht und dort Position bezogen, um mit pochendem Herzschlag die Auseinandersetzung seiner Eltern zu belauschen.
„Ich verlange, dass du sie auf der Stelle verlässt!“, flehte die Duchess – Rohan konnte ihre Verzweiflung mit jeder Faser seines Leibes spüren.
„Das werde ich nicht. Es ist durchaus üblich, dass ein Mann sich eine Geliebte hält.“
„Aber nicht mein Mann! Nicht du!“, schrie sie und klang dabei, als wäre ihre Welt in tausend Stücke zerbrochen.
„Du wirst dich damit abfinden.“
„Nein! Hamish, ich flehe dich an! Ich ertrage es nicht!“
„Ich verlange, dass du es unterlässt, dich derart hysterisch zu verhalten und dich wie eine erwachsene Frau benimmst! Du bist nicht die erste Ehefrau, die von ihrem Mann betrogen wird. Genau genommen wärst du eine Ausnahme, wenn ich es nicht täte. Demzufolge erwarte ich, dass du dich damit abfindest.“
Im nächsten Moment knallte eine Tür. Die darauffolgende Stille dröhnte sekundenlang in Rohans Ohren, bis diese von Schluchzen unterbrochen wurde, das die bedrückte Geräuschlosigkeit in kleine, abgehackte Einheiten teilte. Rohans Herz wurde immer schwerer. Es war ihm unmöglich, den Sachverhalt nachzuvollziehen. Alles, was er verstanden hatte, war, dass sein Vater eine Engländerin mit Namen Hure liebte. Aber das durfte er doch nicht! Das brach seiner Mutter das Herz!
Die Gedanken des Neunjährigen rasten und er überlegte fieberhaft, wie er sie wieder aufmuntern konnte. Er beschloss, ihr einen Strauß Blumen zu pflücken. Sie liebte Blumen, insbesondere das violette und purpurfarbene Heidekraut. Gerade als er sein Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, bemerkte er, dass das Weinen verstummt war. Nachdenklich runzelte er die Stirn. Diese Ruhe war doch ein gutes Zeichen, oder etwa nicht? Trotzdem beschloss er, an der Idee, sie mit einem Feldblumenstrauß aufzumuntern, festzuhalten. Seine Augen glitten über den Rasen und zur Wiese. Da entdeckte er die Duchess. Wie eine Wilde rannte seine Mutter über das Feld und auf den Wald zu. Wenige Ellen neben der Stelle, an der er gespielt hatte, verschwand sie zwischen den Bäumen. Rohans Herzschlag begann zu rasen. Wohin wollte sie?
So schnell ihn seine Beine trugen, stürzte er ihr hinterher. Doch er vermochte sie nicht einzuholen. Als er auf den breiten Weg stieß, der in fünfhundert Metern Entfernung über einen reißenden Fluss führte, um eine Stunde später in Oban zu enden, entdeckte er sie. Bereits in der nächsten Sekunde geriet sie hinter einer Biegung aus seiner Sicht. Obwohl Rohan kaum noch Luft bekam, seine Lunge brannte und ihn Seitenstechen peinigte, hielt er nicht an, sondern steigerte die Geschwindigkeit. Am Rande seiner Kräfte erreichte er die sanfte Kurve und der Schock ließ ihn abrupt anhalten. Auf der Mitte der Brücke stand Lady Roxburghe, den Blick auf das gurgelnde Wasser gerichtet, welches sieben Meter unter ihr schmatzend und gierig alles mit sich riss, was nicht fest im Boden verankert war.
„Mummy!“, schrie der Knabe aus voller Kehle, doch sie konnte ihn aufgrund des Getöses nicht hören. „Mummy!“
Da gelang es ihm endlich, die Starre abzuschütteln und weiterzulaufen. Aber er kam zu spät. Vor den Augen ihres Sohnes stürzte sie sich in die Tiefe.
„Nein!“, schrie er außer sich. „Nein!“
Als Rohan die Brücke erreichte und auf den reißenden Strom unter sich starrte, war von ihr nichts mehr zu sehen und die Welt des kleinen Jungen in tausend Stücke zerbrochen.
Kapitel 1
17 Jahre später
Summer liebte es, wenn Harrison Cembalo spielte. Dann stellte sie sich vor, auf dem französischen Königshof zu einem Ball geladen zu sein. Nicht, dass sie schon jemals einen besucht hätte. Aber die prunkvollen Feste der Franzosen waren ständiges Gesprächsthema des englischen Adels. Was man sich vom höfischen Leben in dem südlichen Land erzählte, trieb so manchem jungen Mädchen die Schamröte in die Wangen. Summer atmete ein und drehte sich einmal im Kreis, dann sank sie vor einem kunstvoll getrimmten Buchsbaum in Schwanenform in einen tiefen Knicks. Die nächste Saison gehörte ihr! Endlich würde sie in die Gesellschaft eingeführt werden! Sie konnte es kaum erwarten, in den Londoner Trubel einzutauchen. Als ihre Eltern sie das letzte Mal in die Hauptstadt mitgenommen hatten, war Summer ein kleines Mädchen gewesen. Deshalb waren ihre Erinnerungen diesbezüglich äußerst lückenhaft. Trotzdem hatte sich in ihr das Gefühl, dass an jenem Ort alles möglich wäre, festgesetzt. Oh ja, sie würde die Saison genießen! Insbesondere, da sie längst wusste, dass sie eines Tages Harrison heiraten würde. Sie hatten zwar nie darüber gesprochen, doch ihre Vermählung war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Das Cembalo verstummte und Summer drehte sich zu den weit offen stehenden, breiten Flügeltüren des Musikzimmers. Schnell eilte sie darauf zu und klopfte an. Harrison, der soeben den Deckel des Instruments geschlossen hatte, wandte sich in ihre Richtung.
„Summer“, stellte er mit einem erfreuten Lächeln fest. Nicht zum ersten Mal überlegte die junge Frau, wie er sie trotz seiner Blindheit erkennen konnte.
„Wieso hörst du auf?“, fragte sie statt einer Antwort.
„Ich bin deprimiert“, erklärte er und verzog den Mund.
„Aber weshalb nur?“
Leise trat sie auf ihn zu.
„Darüber vermag ich nicht zu sprechen.“
„Warum nicht? Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst.“
Er atmete mehrmals tief durch.
„Wo ist deine Anstandsdame?“, wollte er wissen und Summer runzelte fragend die Stirn.
„Ach, sie trifft sich mit der Zofe deiner Mutter. Wie immer, wenn ich bei dir bin.“
Diese Antwort schien ihn zu ärgern, denn sein Gesicht verdüsterte sich.
„Siehst du?“, beschwerte er sich. „Als würde von mir keinerlei Gefahr ausgehen.“
„Was meinst du damit?“ Summer musterte ihn verständnislos, doch er winkte ab.
„Machen wir einen Spaziergang. Hoffentlich bringt mich das auf andere Gedanken.“
Er bot ihr den Arm und sie hängte sich bei ihm ein. Vorsichtig führte sie ihn in den Garten und auf einen Weg, der sie vom Haus fortbrachte.
„Willst du mir jetzt berichten, was deine Stimmung trübt?“, ließ Summer nicht locker und bog auf einen Waldweg ab. „Achtung, hier liegt ein Ast auf dem Boden. Du musst den Fuß höher heben.“
Er tat wie geheißen und sie überwanden das Hindernis.
„Es ist ein Geheimnis. Wenn du es wissen willst, musst du uns an einen Ort bringen, an dem uns keiner finden oder belauschen kann.“
„In Ordnung.“
Summer lächelte und führte ihn vom Weg ab. Im Laufe der folgenden Minuten konzentrierte sie sich darauf, Harry zu leiten und zu verhindern, dass er gegen einen Baumstamm lief oder über eine Wurzel stolperte. Nach einiger Zeit erreichten sie eine kleine, sonnendurchflutete Lichtung.
„Ich denke, hier wird uns niemand finden“, murmelte Summer.
„Bist du sicher?“
„Ja.“
„Gut. Können wir uns setzen?“
„Ja, dort drüben.“
Summer dirigierte ihn unter einen Baum, dessen Äste sich weit über ihnen wie ein Dach ausbreiteten.
„Du kannst dich an den Stamm lehnen“, erklärte sie fürsorglich und half ihm dabei, sich im Schatten des Baumes niederzulassen.
Dann ging sie gegenüber von ihm auf die Knie. Gespannt musterte sie ihren Freund und tiefe Liebe für ihn durchflutete sie. Seit Kindheitstagen trafen sie einander regelmäßig. Im Laufe der Jahre war Summer so etwas wie seine Beschützerin geworden. Sie genoss es, für sein Wohlbefinden zu sorgen – auch jetzt würde sie alles geben, um seine miserable Laune zu verbessern oder sein Leid zu lindern.
„Es verhält sich folgendermaßen, Summer“, begann er und Nervosität färbte seine Stimme dunkler.
„Ja?“ Aufgeregt beugte sich das junge Mädchen vor. „Los, berichte!“
„Es ist mir reichlich unangenehm“, gestand Harrison und eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen.
„Dafür gibt es keinen Grund! Bis jetzt haben wir alle Geheimnisse miteinander geteilt, oder etwa nicht?“
Er nickte, doch etwas in seinen Gesichtszügen machte sie stutzig. Als belöge er sie. Summer schüttelte diesen irritierenden Gedanken ab. Harry würde sie niemals hintergehen. Nicht er. Schließlich liebten sie einander und Liebende waren stets ehrlich und …
„Die anderen machen sich über mich lustig.“
„Die anderen?“
„Deine Brüder Julian und Andrew. Und natürlich James, dieser Taugenichts.“
Summer stieß die Luft aus.
„Pah, was interessiert dich das?“
„Sie haben recht!“
„Das vermag ich kaum zu glauben! Welchen Grund könnten sie denn haben?“
„Meine Unwissenheit.“
„Deine Unwissenheit?“, wiederholte Summer verständnislos. „Du bist weitaus mehr gebildet als diese Angeber.“
„Das ist in vielen Bereichen wahr. Aber in einer überaus wichtigen Sache bin ich ein unbeschriebenes Blatt.“
„Was mag das wohl sein?“, überlegte die junge Unschuld laut.
Sie konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, worauf er hinauswollte.
„Mädchen“, murmelte er und wandte den Kopf ab.
Summer richtete sich ratlos auf.
„Was soll das heißen? Was meinst du damit?“
„Ich habe keinen blassen Schimmer, wie eine Frau aussieht“, erklärte er säuerlich. „Während meine Freunde nur einen Blick auf ein weibliches Wesen werfen können und wissen, wie sie aussehen, bleibt mir nur ihre Stimme, um zu erkennen, dass sie sich von mir unterscheiden. Verdammt, ich bin bald achtzehn und habe nicht die leiseste Ahnung von der Beschaffenheit des anderen Geschlechts!“
Summer zog verwundert die Augenbrauen zusammen.
„Aber du weißt doch, wie ich aussehe!“
„Ich kenne dein Gesicht, Summer, mehr nicht.“
Sein Frust war deutlich zu spüren und sie zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie ihm helfen könnte. Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus.
„Siehst du?“, stellte er nach einer Weile wütend fest. „Daran vermagst sogar du nichts zu ändern.“
Summer senkte den Blick zu seinen schlanken Pianistenhänden. Was, wenn sie seine Hand führte? Wenn sie ihm gestattete … Aber das wäre eine Sünde! Von klein auf hatte man ihr eingebläut, dass es nur ihrem Ehemann zustünde, sie zu berühren. Allerdings war das hier etwas anderes. Hier ging es genau genommen gar nicht um Unsittlichkeiten, sondern darum, ihrem über alles geliebten Freund das Leben zu erleichtern. Abgesehen davon wäre sie ohnehin bald Harrisons Frau.
„Ich könnte dir helfen“, schlug Summer leise vor und ihre Wangen färbten sich rosig.
Sofort hellte sich seine Miene auf.
„Das würdest du für mich tun?“, fragte er hoffnungsvoll und ihr Herz weitete sich.
„Ich würde alles für dich machen, Harry! Das weißt du doch.“
Er setzte sich aufrecht hin und streckte eine Hand auffordernd nach ihr aus.
„Dann lass uns nicht länger warten“, drängte er, sofort Feuer und Flamme.
Mit einem mulmigen Gefühl rutschte das Mädchen näher und direkt zwischen seine Beine, die er aufgestellt hatte.
„Führe mich“, bat er und hielt ihr beide Hände hin.
Nervös legte sie seine Handflächen auf ihre Schultern und wölbte ihre Hände darüber. Hoffentlich machte sie keinen Fehler! Ihre Gedanken rasten und sie kämpfte darum, die aufsteigende Sorge zu unterdrücken und ihr schreiendes Herz zu beschwichtigen. Es ist alles in Ordnung. Harry braucht meine Hilfe. Ich tue nichts Unrechtes!
„Hier ist mein Hals“, flüsterte sie und seine Daumen strichen über ihre Kehle.
„Meine Arme.“
Sie schob seine Hände entlang ihrer Arme, bis hin zu den Fingerspitzen.
„Mein Rücken.“ Jetzt musste sie sich etwas verrenken und er lächelte.
„Warte, das kann ich allein“, schmunzelte er und glitt mit seinen Fingern tiefer.
Bevor er geheime Regionen erreichte, umklammerte sie ihn an den Unterarmen und zog diese wieder vor ihren Körper.
„Mein Bauch.“
„Nun ja“, brummte er. „Wie mir scheint, unterscheidet sich eine Frau kaum von einem Mann. Ist es so?“
Summer schloss die Augen und atmete tief durch. Dann nahm sie seine Hände und legte sie auf ihre Brüste. Er stieß die Luft aus.
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