5 Jahre später

Die Hitze des Tages hatte sich in den Mauern Konstantinopels gespeichert und verhinderte, dass es nach Sonnenuntergang kühler wurde. Obwohl
vom Meer her eine leichte Brise durch die engen Gassen wehte, überzog ein dünner Schweißfilm Daniels Stirn. An den Schläfen sog er sich in den dunklen Stoff des Turbans, den er sich zur Tarnung aufgesetzt hatte. Er passte perfekt zu dem Ruß auf seinen Wangen, welcher seine europäische Abstammung vertuschen sollte. Seit sich Bulgarien gegen das Osmanische Reich erhoben hatte, nistete Unruhe in jedem Winkel und knisterte in der Lunge, wenn man Atem schöpfte. Doch dies war nicht der Grund, weshalb Daniel aufs Äußerste angespannt war. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte er auf das Haus Mahmud Haddads, eines wohlhabenden, arabischen Kaufmanns. Auf beiden Seiten des stattlichen Tores zuckten die Flammen einer Fackel, als kostete es sie immense Kraft, die vorherrschende Dunkelheit aufzureißen. Daniel ließ das Portal nicht aus den Augen, wischte sich aber mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn.
„Komm schon“, drängte er leise, beschwor im Geist seinen Komplizen, und strich sich die feuchten Handflächen an der Hose ab. „Na, los! Worauf wartest du denn?“
Da wurde das Tor einen Spaltbreit geöffnet und Daniel murmelte ein
Dankgebet, bevor er darauf zulief. Ein Knabe von rund elf Jahren erwartete ihn im Inneren neben der Tür. Er stand dabei so, dass man ihn von außen nicht sehen konnte. Daniel nickte dem Jüngeren zu, der sich ohne Antwort umdrehte. Lautlos folgte er dem Kind in den hinteren Teil des Hauses, beobachtete, wie es verstohlen einen Riegel zur Seite schob. Dann zeigte er ins Innere des Raums. Die einzige Lichtquelle, welche die spartanische Einrichtung marginal erhellte, war der Schein des zunehmenden Mondes, der, wie die auf der osmanischen Armeeflagge abgebildete Sichel, schief am Firmament hing.
„Ist sie das?“, flüsterte er und deutete mit dem Kinn auf eine schlafende Gestalt, die sich kaum von der Dunkelheit abhob. Der Knabe nickte bestätigend. Da huschte Daniel zu der jungen Frau, beugte sich über sie und presste ihr eine Hand auf den Mund. Sie wehrte sich nicht, obwohl er sie erschreckt haben musste. Forschend musterte er sie und erkannte am Glitzern ihrer Augäpfel, dass sie wach war.
„Sei leise, ich bringe dich in Sicherheit“, wisperte er dicht an ihrem Ohr, doch sie bewegte sich nicht. Nickte nicht einmal als Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte. Probehalber gab er ihren Mund frei. Kein Laut löste sich von ihren Lippen. Da schob er die Arme unter ihren Körper und hob sie hoch. Nüchtern stellte er fest, dass sie kaum mehr als einer der Mehlsäcke wog, die er auf seiner Pinasse transportierte. Ihre Schläfe streifte seine Schulter, als er sich, ihren Leib eng an sich gedrückt, dem Ausgang zuwandte. Dabei fiel ihr Kopf zurück in den Nacken, so, als verfügte sie über keinerlei Körperspannung. War ihr merkwürdiges Verhalten das Ergebnis purer Angst? Es wäre kein Wunder. Nach allem, was sie durchgemacht haben musste, gehörte dieses Gefühl zweifellos zu ihrem Alltag. Mit angehaltener Luft huschte er den Weg, den er gekommen war, zurück. Bevor der Knabe die Tür hinter ihm schloss, drückte Daniel ihm den zweiten Teil der zuvor vereinbarten Belohnung auf die Handfläche. Es blieb zu hoffen, dass der Bursche gegenüber Haddad am kommenden Tag eine schlüssige Ausrede für das Verschwinden des Mädchens parat hatte. Aber das sollte nicht seine Sorge sein. Er musste Mila schnellstmöglich von hier fortbringen!


Erst nachdem sie das Haus hinter sich gelassen hatten, atmete Daniel auf. Dennoch hielt er nicht an, sondern hastete die verwaiste Straße entlang. Zwei Seitengassen weiter erwartete ihn Bob, der Steuermann seines Handelsschiffes, auf einem Pferdewagen. Vorsichtig legte Daniel Mila auf die Ladefläche und kletterte neben sie. Sogleich setzte sich das Gefährt in Bewegung. Das Trommeln der Hufe zerriss die nächtliche Stille, übertönte vereinzelte Schritte oder Stimmen, die hin und wieder aus den Häusern ins Freie drangen. Er nahm dies alles nur nebenbei wahr, die junge Frau neben
ihm beschäftigte seine Gedanken. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er sie, um herauszufinden, wie es ihr erging. Der Geruch von Kümmel stieg flüchtig in seine Nase, kurz bevor sie sich dem Hafen näherten und Fischgestank die Luft durchtränkte. In dem Fall der willkommene Hinweis, dass sie sich bald in Sicherheit befänden.


Ethan Levi, Erster Maat der Morningbreeze, lehnte an der Reling und sah ihnen entgegen. Daniel gab ihm ein Zeichen und der Seemann verschwand, um ihnen zu helfen. Nicht lange und sie hasteten übers Deck. Beunruhigt musterte Daniel das Gesicht der jungen Frau in seinen Armen. Sie hatte bis jetzt kein Lebenszeichen von sich gegeben, obwohl ihre Augen geöffnet waren. Mit der Schulter stieß er die Tür zur Kapitänskajüte auf und legte sie auf das schmale Bett. Dann schloss er die Tür und entzündete eine Petroleumlampe. Gleichzeitig hörte er, wie die Segel gehisst wurden und spürte, wie das Schiff zu schaukeln begann.
„Los“, feuerte er seine Mannschaft insgeheim an. „Her mit der strammen
Windböe!“
Er stellte die Lampe neben dem Bett ab und lauschte auf das Knarren der
Seile und Ächzen der Segel. Das klang gut. Wie es aussah, war ihnen das Glück hold und sie würden ohne Probleme entkommen können. Das
zunehmende Heulen des Windes bewies ihm, dass sie an Fahrt gewannen. Jetzt konnte er sich beruhigt um Mila kümmern. Eilig rückte er einen Stuhl an die Koje heran, setzte sich darauf und unterzog die blutjunge Frau einer eingehenden Musterung. Die Spitzen ihres honigblonden Haares, welches über das Kissen und die Bettkante floss, berührten den Boden. Ihre Augenbrauen waren sanft geschwungen und überschatteten ihre weit aufgerissenen, blauen Augen. Mila besaß hohe Wangenknochen und eine zarte Nase über wohlgeformten Lippen. Ihr Kinn war lieblich gerundet. Obwohl sein Blick jeden Zoll ihres Gesichts abtastete, bewegte sie sich nicht.
„Hab keine Angst, du bist in Sicherheit“, erklärte er schließlich und hoffte, dass sie ihn verstand. Ajdin Goranov, ihr Bruder, hatte ihm erzählt, dass er als Kind Unterricht in Englisch gehabt und dass Mila heimlich gelauscht und mitgelernt hätte. Trotzdem war nicht anzunehmen, dass sie sich die Vokabeln, angesichts dessen, was ihr widerfahren und der Zeit, die vergangen war, gemerkt hatte. Ihrer Muttersprache Bulgarisch war hingegen Daniel nicht mächtig. Somit blieb ihm nur zu hoffen, dass die junge Frau am Klang seiner Stimme seine lauteren Absichten erkannte.
„Mein Name ist Daniel. Daniel Robinson und ich bringe dich zu deinem Bruder nach Großbritannien“, fuhr er fort zu erklären, in der Hoffnung, sie zu einer Bewegung zu veranlassen. Doch nichts deutete darauf hin, dass sie ihn verstand, geschweige denn ihm überhaupt zuhörte. Ihre Augen starrten glasig ins Leere und er überlegte, ob man sie mit Opium betäubt hatte. Womöglich hatte sie bis jetzt gar nicht erfasst, dass er sie aus dem Haus des arabischen Kaufmanns befreit hatte.
„Du bist bestimmt müde“, murmelte Daniel ratlos und griff nach einem
Leintuch, das er über ihren Leib breitete. „Schlaf jetzt und sei unbesorgt. Alles wird gut!“
Um sie nicht weiter zu erschrecken, erhob er sich leise und stellte den Stuhl auf seinen Platz zurück. Dann löschte er die Lampe und verließ die Kabine. Als er an die Reling trat, warf er einen Blick auf die hinter ihnen zurückbleibende Stadt. Die vereinzelten Lichter des Hafens waren nur noch als winzige Punkte zu erkennen.
„Wie es aussieht, werden wir es schaffen“, rief er Ethan zu und der nickte.
„Aye,Captain. Es scheint, als wollte jemand, dass diese Mission gelingt!“

Der Wind ließ sie nicht im Stich und als die Morgendämmerung Nebelfelder über das schäumende Meer trieb, hatten sie bereits das
griechische Festland hinter sich gelassen – die Straße von Gibraltar stellte das erste Etappenziel ihrer Reise dar. Bevor Daniel in die Kapitänskajüte eintrat, klopfte er leise an. Vorsichtig öffnete er die Tür und lugte ins Innere. Mila lag reglos mit dem Rücken zu ihm, auf dem Bett.
„Darf ich hereinkommen?“, wollte er höflich wissen, doch sie erwiderte
nichts. Ratlos strich er sich mit den Fingern durchs dunkelbraune Haar. „Schläfst du noch?“
Da sie nicht antwortete, zog er die Tür hinter sich zu, stellte ein Tablett auf dem Tisch ab und trat näher. Neben dem Bett blieb er stehen, bückte sich und stupste sie vorsichtig am Oberarm an. Nichts. Keine Reaktion.
„Ich habe Frühstück für dich gebracht, Mila“, ließ er sie freundlich wissen. „Bist du nicht hungrig?“
Sie bewegte sich nicht. Unschlüssig starrte er auf ihren Hinterkopf, das zierliche Ohr, den Schwung ihres Halses. Auf dem Weg nach Konstantinopel hatte er sich alle möglichen Szenarien, wie sie auf ihre Rettung reagierte, vorgestellt. Doch in keiner von ihnen hatte sie ihn mit einer leblosen Gleichgültigkeit bedacht und er überlegte, wie er sich verhalten sollte. Ratlos traf er eine Entscheidung, schob seine Hände unter sie und setzte sie auf. Ohne Gegenwehr ließ sie es geschehen und er war froh, dass sie sitzen
blieb und nicht zurück aufs Bett fiel. Er wertete dies als ersten Erfolg. Behutsam umschloss er ihren Oberarm und zog sie auf die Beine. Sie folgte ihm brav wie ein erstklassig abgerichteter Hund. Nein, dachte er, während er sie zum Stuhl führte, wie ein gebrochener Hund. Wie ein Lebewesen, dem man den eigenen Willen brutal ausgetrieben hatte. Sein Herz zog sich voll Mitgefühl zusammen. Sanft drückte er sie auf die Sitzfläche und sie ließ es geschehen. Er stellte einen Teller vor sie und legte einen Löffel daneben.
„Ich entschuldige mich für das bescheidene Mahl, doch an Bord eines Schiffes haben wir keine große Auswahl, was das Essen anbelangt.“ Er lächelte sie aufmunternd an und schöpfte aus einer Schüssel Suppe auf ihren Teller. „Genau genommen haben wir insgesamt in sämtlichen Belangen kaum Alternativen, aber ich fürchte, bei den Speisen fällt es am ehesten auf.“
Er stellte die Kelle in die Schale zurück und wartete, dass sie zu essen begann. Es irritierte ihn, dass sie nach wie vor an ihm vorbeiblickte und dadurch den Anschein erweckte, gedanklich abwesend zu sein. Daniel setzte sich ihr gegenüber, ergriff ihre rechte Hand und klemmte den Löffel zwischen ihre Finger.
„Bitte, iss!“
Da senkte sie zu seiner Erleichterung ihr Antlitz und begann zu essen. Jeder ihrer Bewegungen folgte er mit Argusaugen.
„Ich vermag zu verstehen, dass dir nicht begreiflich ist, wie dir momentan
geschieht“, durchbrach er erneut die zwischen ihnen herrschende beklemmende Stille, welche er kaum ertrug. „Wie ich gestern andeutete, hat mich dein Bruder geschickt, um dich zu retten. Dieswar kein leichtes Unterfangen, das kannst du mir glauben. Dich zu finden, war, wie eine Stecknadel in einem Heuhaufen zu suchen. Es hat mich einige Monate gekostet.“ Er schüttelte den Kopf und lachte leise auf. „Aber es ist mir gelungen, nicht wahr? Dabei ging eine schöne Stange Geld drauf.“ Daniel zuckte mit den Achseln. „Nicht, dass deine Befreiung nicht jeden Penny wert wäre. Letztlich kommt ohnehin dein Bruder für alle Spesen auf. Ajdin, du erinnerst dich?“
Sie löffelte ungerührt die Suppe, mechanisch wie eine jener kleinen Aufziehpuppen, die auf Jahrmärkten feilgeboten werden. Er runzelte die Stirn.
„Womöglich fragst du dich, weshalb es so lange gedauert hat, bis dich jemand befreite? Nun, dafür gibt es einen simplen Grund: Dein Bruder, dem es gelungen war, den Piraten zu entkommen, musste sich erst ein neues
Leben in Großbritannien aufbauen, um deine Rettung finanzieren zu können.“
Wie zuvor taxierte sie den Teller, als existierte die Welt um sie herum nicht.
„Mila“, murmelte er besorgt und legte eine Hand auf ihren Unterarm. Sogleich ließ sie den Löffel sinken und dieser kam mit einem dumpfen Laut auf der Tischplatte auf.
„Du bist doch Mila, oder?“
Sie bewegte sich nicht. Sekunden flogen vorbei und Daniel zog seine Hand zurück.
„Ich kann mir vorstellen, dass es dir besser ergehen wird, wenn du ein Bad genommen hast. Ich werde dafür sorgen. Sobald du den türkischen Staub von dir gewaschen hast, wirst du wieder du selbst sein, denkst du nicht?“
Ihre Augen blickten unverändert an ihm vorbei und ihre reglose Haltung erinnerte ihn an die einer Statue.
„Bitte, iss weiter!“ Er machte eine auffordernde Geste und sie gehorchte sofort.
Mittlerweile hatte er eingesehen, dass mit ihr kein Gespräch, in welcher Form auch immer, zustande kommen würde, deswegen ließ er sich
zurücksinken, ohne seine Augen von ihr abzuwenden.
Der Anblick ihrer zarten, unscheinbaren, tief in sich zusammengesunkenen Gestalt verkrampfte sein Herz. Brennendes Mitgefühl überwältigte ihn und er schluckte hart. Er wollte sich nicht ausmalen, welches Leid sie erfahren haben musste, welche Tragödien ihr zugestoßen waren.
Als sie aufgegessen hatte, stellte er den Teller zur Seite und hievte einen schweren Bottich in die Mitte der Kajüte. Auf dem Weg zur Kombüse befahl er einem Matrosen, warmes Wasser in den Holztrog zufüllen. Als er nach einer Weile zu Mila zurückkehrte, saß sie genauso, wie er sie verlassen hatte. Er biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein Seufzen. Oh, er wünschte, er könnte ihr helfen! Sie irgendwie ins Leben zurückholen!
Nachdem der Matrose den Holzbottich gefüllt hatte, bückte sich Daniel und
überprüfte die Temperatur. Zufrieden stellte er fest, dass sein Seemann gute Arbeit geleistet hatte.
„Ich werde dich jetzt allein lassen“, erklärte er zu Mila gewandt, die unverändert apathisch auf dem Stuhl saß und vor sich hinstarrte.
„Entkleide und wasche dich. Du wirst sehen, es wird dir helfen. Ganz bestimmt. Beeile dich, bevor das Wasser abkühlt!“
Er drehte sich zur Tür, warf aber einen letzten Blick über die Schulter, wollte sich vergewissern, dass sie ihm zugehört hatte.
Doch nicht das flüchtigste Zucken ließ vermuten, dass sie sich in den nächsten Minuten bewegen würde. Ratlos überlegte er, was er tun sollte und entschloss sich, ihr zu helfen. Deswegen kehrte er zu ihr zurück, blieb vor ihr stehen, umfasste sie an den schmalen Handgelenken und zog sie behutsam in die Höhe. Sie ließ es mit sich geschehen.
„Benötigst du meine Hilfe?“
Sie blickte auf Brusthöhe durch ihn hindurch. Daniel runzelte unbehaglich die Stirn.
„Wenn ich dich in Ruhe lassen soll, musst du es nur sagen und ich verspreche, sofort zu verschwinden.“
Nichts an ihr deutete darauf hin, dass es sie ängstigte, mit ihm allein zu
sein. Dass die Aussicht, er würde sie entkleiden, ihr Unbehagenbereitete. So weit er das erkennen konnte, beschleunigte sich ihr Puls nicht. Daniel gab sich einen Ruck und hob die Hände. Seine Finger zitterten, als er nach den Bändern griff, welche die Tunika an ihrem Hals zusammenhielten. Während er sie löste, empfand er sich wie einen Dieb, der sich stahl, was einem anderen gehörte. Es ließ sich nicht vermeiden, dass seine Fingerspitzen die weiche Haut ihres Halses streiften, obwohl er sich konzentriert darum bemühte, sie nicht zu berühren. Inbrünstig kämpfte er sein schlechtes Gewissen nieder, das ihm vorhielt, die Situation auszunutzen und sich an einem hilflosen Mädchen zu vergehen. Er hielt sich verbissen vorAugen, dass er ihr helfen und nicht seine Leidenschaft stillen wollte. Wie könnte er eine Frau begehren, die so zerbrochen war, dass ihr Geist die Welt verlassen hatte? Er zog die Hände zurück, trat einen Schritt nach hinten.
„Fertig. Gelingt es dir, das Kleid allein über den Kopf zu ziehen?“ Hoffnungsvoll musterte er sie, wartete, dass sie der Aufforderung nachkam. Doch sie reagierte nicht. Er warf einen abschätzenden Blick zur Wanne. Wenn sie sich nicht bald hineinsetzte, wäre das Wasser kalt.
„Gut, dann …“ Er krallte resigniert seine Finger in Höhe ihrer Taille in den Stoff. „Heb die Arme!“
Sie tat wie geheißen und er schob ihr das orientalische Kleidungsstück über den Kopf. Er verbot es sich, ihren Körper zu betrachten und warf die Tunika auf den Stuhl. Dann umschloss er die junge Frau, hob sie in die Höhe und stellte sie in den Bottich.
„Und jetzt setz dich hin!“
Ihre Bewegungen waren fahrig, als sie seiner Forderung Folge leistete. Er holte ein Stück Seife und ein Tuch und drückte ihr beides in die Hand.
„Los!“, drängte er sanft.
Da sie sich nicht bewegte, nahm er ihr die Utensilien wieder ab, sank neben der Wanne in die Knie und tauchte die Seife ins Wasser. Er schäumte sie auf und hielt ihr das Tuch hin. Doch sie griff nicht danach. Stattdessen spreizte sie die Beine. Als hätte sie ihm glühende Kohlen ins Gesicht geworfen, fuhr er mit einem erschrockenen Satz zurück, wobei er fast das Gleichgewicht verlor.
„Nein“, wehrte er zutiefst erschüttert ab, „nein, das ist nicht der Grund für dieses Bad. Schließe deine Beine, ich bitte dich!“
Sie tat es, als wäre es ihr einerlei, was er mit ihr anstellte, aber zumindest verstand sie ihn.
„Ich will dich nur waschen, verstehst du? Nur waschen! Wir befreien dich vom Dreck dieser Barbaren. Ja?“
Daniel stellte mit Befremden fest, dass er mittlerweile wie sein ehemaliges Kindermädchen vor sich hin plapperte. Es war eine von Pearls Eigenheiten gewesen, ständig vor sich hin zu schwafeln. Belangloses Zeug. Trotzdem hatte er sie geliebt. Ihre schwarze Hautfarbe war für ihn ein Symbol der Geborgenheit geworden.


Zögernd tupfte er über Milas Hals und entdeckte blaue Flecken unterhalb
ihrer Kehle. Himmel, war sie gewürgt worden? Sekundenlang hielt er die Luft an, um die Fassung wiederzuerlangen. Gott, wer hatte das getan? Dieser Kaufmann? Er strich mit dem Tuch ihre Schultern entlang. Ein Brandzeichen auf ihrem rechten Oberarm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Daniel atmete zischend aus und schalt sich selbst als naiv. Was hatte er denn angenommen? Dass sie an Leib und Seele unversehrt wäre, obwohl sie fünf Jahre lang eine Sklavin, zuerst der Araber, dann der Osmanen und darauf wieder der Araber gewesen war? Hatte er insgeheim auf ein Wunder gehofft? Und nicht nur er? Womit rechneten Ajdin Goranov und Miron Tomov? Wie malten sich die beiden Bulgaren Mila bei ihrem Wiedersehen aus?
Er rückte unbehaglich hinter sie und wusch ihren Rücken. Eine Narbe
verlief zwischen ihren Schulterblättern bis hinunter zu ihrem Steißbein.
„Herrgott, was haben sie dir angetan?“, keuchte er unvermittelt und seine Stimme klang ungewohnt rau, so, als hätte er sie nie zuvor benutzt. Er räusperte sich. Nachdem er mit dem Abspülen ihres Rückens fertig geworden war, bat er sie, den Kopf in den Nacken zu legen.
Wieder gehorchte sie ohne zu zögern. Er goss Wasser aus einem Krug über ihr Haar, verteilte es mit der freien Hand in der seidigen Fülle. Dann arbeitete er die Seife ein. Wie er feststellte, hatte sie die Augen geschlossen und sekundenlang wirkte sie wie eine normale Frau, nicht wie ein tödlich verletztes Wesen in den letzten Zuckungen. Ihrem leeren Blick für eine kurze Weile zu entgehen, erleichterte ihn. Als er die Seife aus ihrem Haar wusch, kam er ihrem Gesicht so nahe, wie nie zuvor. Ihr Atem streifte, flüchtig wie eine milde Morgenbrise, sein Kinn. Unbeschreiblich sacht tupfte er über ihre Wangen, die Stirn, strich die Nase entlang.
„Du kannst den Kopf wieder nach vorne biegen“, flüsterte er und sie gehorchte.
Als sie die Augen öffnete, hoffte er, ihren Blick einzufangen, doch sie sah unverändert leblos durch ihn hindurch. Langsam senkte er sein Antlitz und beschloss, ihre Brüste zu ignorieren und mit dem Tuch über ihren Bauch zu streifen. Wie er feststellte, war sie nicht schmutzig. Es war weithin bekannt, dass die Mohammedaner ihre rituellen Waschungen penibel ausführten, offensichtlich wirkte sich dieser ebenso auf ihre Sklaven aus. Oder zumindest auf jene Frauen, die ihre Herren mit ihren Leibern zu erfreuen hatten.
Er entdeckte kleine Geweberisse auf ihrer Bauchdecke und fragte sich, woher sie wohl stammten. Vermutlich hatte man Mila auf eine grausame und schreckliche Art, wie er sie sich nicht vorzustellen vermochte, gefoltert. Ihn schauderte. Er konnte sich nicht dazu überwinden, sich ihrem Unterleib zu widmen. Stattdessen konzentrierte er sich auf ihre Oberschenkel und Knie. Zu guter Letzt nahm er ihren rechten Fuß in die Hand und entdeckte einen Zehenring. „Den werde ich dir abnehmen, ja?“
Fragend suchte er in ihrem Antlitz nach ihrem Einverständnis. Er hätte sich die Mühe sparen können. Vorsichtig, um ihr keine Schmerzen zu bereiten, zog er ihr den Ring von der zweiten Zehe. Nachdem er ihren Fuß wieder ins Wasser gelegt hatte, richtete er sich auf. Er griff nach einem großen Laken und breitete es aus.
„Bitte steh auf!“
Da sie nicht reagierte, warf er sich das Tuch über die Schulter, umfasste sie an den Oberarmen und zog sie sanft in die Höhe. Fürsorglich wickelte er sie in die Stoffbahn ein und hob sie auf. Sofort erschlaffte sie in seinen Armen, als hätte sie das Bewusstsein verloren. Schnell brachte er sie zum Bett, legte sie darauf, zog den Stuhl näher und setzte sich. Tröstend strich er ihr mit dem Zeigefinger über die Schläfe.
„Es wird dir bald besser gehen“, versprach er und hoffte inbrünstig, damit recht zu behalten.