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Prolog

Bulgarien 1815

Die Sonne glitzerte golden auf den Wellenkämmen des Schwarzen Meeres, kurz bevor sie sich im blutroten Schein auflöste. Mila Goranov schenkte dem dunklen Umriss einer Fregatte, welche vor einiger Zeit am Horizont aufgetaucht war, keine Beachtung. Einem Geisterschiff gleich, teilte deren Kiel die Wasser der See wie eine scharfe Klinge, bis sie von der einbrechenden Nacht verschluckt wurde.
Glücklich, mit pochendem Herzen stand das Mädchen am Fenster seines Zimmers, die linke Hand ruhte am Fensterbrett, es atmete aufgeregt ein und aus. Vor wenigen Minuten hatte Miron Tomov bei ihrem Vater um Milas Hand angehalten. Endlich, nach all den Jahren ihrer Kindheit, welche von ihrer stillen Bewunderung für Miron geprägt gewesen waren, war sie jetzt am Ziel ihrer Träume angelangt. Von klein auf hatte sie den Tag ihres fünfzehnten Geburtstags herbeigesehnt, hatte mit Begeisterung beobachtet, wie sich ihr Körper von dem eines Mädchens in den einer Frau verwandelte, um schließlich damit Mirons Aufmerksamkeit zu erregen. So hatte sie zumindest gehofft. In Wahrheit hatte sich dies als schwierige Aufgabe herausgestellt, da er sie stets als die kleine Schwester seines besten Freundes betrachtete. Vor einigen Monaten hatte Mila erkannt, dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen musste, um Miron für sich zu gewinnen. Fest entschlossen, eines Tages Mirons Ring am Finger zu tragen, hatte sie ihrem Vater beiläufig einen Floh ins Ohr gesetzt. Insgeheim hatte sie sich darüber gewundert, dass er bis dato nie über den Vorteil einer dauerhaften Bindung zwischen ihren Familien nachgedacht hatte. Daher malte sie ihm überschwänglich die schönsten Bilder vor Augen und war erleichtert, dass er mühelos zu überzeugen war. Es dauerte nicht lange, da sah sie Mirons Blick auf sich ruhen. Oh, seine eindringliche Musterung ließ ihren Leib unter wohligen Schauern erbeben! Wenn sie nur daran dachte, wurde ihr schwindlig! Und seine Stimme! Als er sie bei seinem Eintreffen vor einer knappen Stunde begrüßt hatte, klang sie wie weicher Samt und hatte sie wie in einen warmen Mantel eingehüllt. Umso ungerechter empfand sie es, dass ihr Vater sie danach in ihr Zimmer geschickt hatte. Bedauerlicherweise war er trotz ihrer Bitte hart geblieben und hatte ihr, als wäre sie ein kleines Kind, vor Miron nachdrücklich erklärt, dass sie beim Aushandeln der Einzelheiten, die ihren bevorstehenden Ehestand betrafen, unerwünscht sei. Sie wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken, doch Mirons anhaltend schmachtende Blicke hatten sie getröstet und sogar mit ihrem Schicksal versöhnt. Wenn alles so geschah, wie sie es sich vorstellte, wäre sie schon vor dem Wintereinbruch seine Gemahlin und nichts vermöge sie jemals zu trennen. Oh, das Leben war wunderbar!
Ausgelassenes Gelächter drang von unten zu ihr empor und ließ sie annehmen, dass man sich, bei etlichen Gläsern Mastika, geeinigt hatte. Die junge Frau verdrehte die Augen. Ein kleines Schlückchen dieses Gebräus, das so herrlich nach Anis schmeckte, könnte sie ebenso vertragen. Ihr schien, dass winzige Blitze ihre Nerven malträtierten, denn ihr Leib prickelte heftig.
Mila seufzte trotz ihrer Aufregung verträumt auf und kam zu dem Schluss, in den nächsten Stunden ganz gewiss nicht einschlafen zu können. Zu belebend wirkten die in ihrem Geist aufsteigenden Bilder der bevorstehenden Hochzeit und befeuerten ihren Puls mit jeder weiteren ersonnenen Einzelheit. Ihr Zimmer schien ihr eindeutig zu klein für die erfüllenden Zukunftsvisionen, die ihren Brustkorb weiteten. Sie beschloss, sich zu ihrer Freundin, die einen Fußmarsch von zwanzig Minuten entfernt wohnte, zu stehlen. Sowohl die Bewegung als auch die frische Luft würden ihr sicher gut tun. Nachdem sie Lana ausführlich von ihren rosigen Zukunftsaussichten berichtet hätte, würde sie zweifellos nach ihrer Heimkehr auch schnell einschlafen können. Leise stieß sie das Fenster auf, kletterte flink auf das Fensterbrett und klammerte sich an den dicken Ast einer alten Steineiche, die ihr schon des Öfteren als Leiter gedient hatte. Ein Glück, dass die Rinde noch so glatt war – zerkratzte Arme und Beine wären für eine Ehefrau sicher nicht sittsam. Da wurde ihr bewusst, dass sie, sobald sie eine verheiratete Frau wäre, auf derlei Vergnügungen würde verzichten müssen. Dies schien ihr jedoch ein schwindend geringer Preis zu sein, den sie liebend gerne zu zahlen bereit war. Weshalb sollte sie das Verlangen verspüren, aus dem Fenster zu klettern, wenn sie stattdessen in Mirons Armen liegen könnte?
Geräuschlos landete sie auf dem harten, sandigen Boden und rieb sich die Hände, um die winzigen Rindenstückchen abzuschütteln. Sie drehte sich ausgelassen im Kreis und lief dann los.
Auf halber Strecke verwob sich die Dämmerung mit der Finsternis, wurde so dicht wie schwerer Samt. Mila stockte. Ihr gelang es kaum, zehn Fuß weit zu sehen. Sekundenlang überlegte sie, umzukehren. Als hätte der Mond ihre Not erkannt, schob er sich hinter einer dunklen Wolke hervor und erhellte wieder ihren Weg. Das Mädchen atmete erleichtert auf. Dennoch heftete sich eine nagende Verunsicherung an ihre Fersen, als wollte diese sie am Weitergehen hindern. Doch nein, sie war zu aufgeregt, um den Besuch bei ihrer Freundin aufzuschieben. Sie musste Lana unbedingt von Mirons Heiratsantrag erzählen! Da sie den Weg in- und auswendig kannte, brauchte sie keine Angst davor zu haben, sich zu verlaufen. Angespannt hastete sie weiter.
Als sie sich dem Grundstück von Lanas Eltern näherte, hörte sie Schreie, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen. Noch bevor sie eine Erklärung dafür finden konnte, sah sie das zuckende Licht unzähliger Fackeln. Einen schmerzhaften Augenblick lang stockte ihr Fuß. Was hatte das zu bedeuten? Warum wurde das Gelände durchsucht? Es musste etwas Schreckliches vorgefallen sein!
Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gedacht, als jemand sie von hinten am Arm packte und herumriss. Ein furchterregender Mann mit dichten, schwarzen Augenbrauen und einem dunklen Turban darüber, grinste ihr ins Gesicht – seine Zähne leuchteten dabei matt auf.
„Araber!“, schoss es Mila durch den Kopf. Panik explodierte in ihr und schnürte ihr den Hals zu. Erinnerungsblitze durchzuckten sie – Warnungen vor den brutalen Überfällen orientalischer Piraten. Ein Hilfeschrei formte sich in ihrer Kehle. Nach Luft ringend öffnete sie den Mund. Da sah sie ihn seine Faust heben.

Ihr Kopf dröhnte, als sie stöhnend erwachte und ihre Sinne zu ihr zurückkehrten. Wo war sie? Zweifellos befand sie sich weder in Lanas Wohnhaus noch Zuhause. Und wie lange war es her, seitdem man sie niedergeschlagen hatte? Ihre Entführer hatten ihre Arme mit einem Seil auf dem Rücken zusammengebunden und die Beine an den Knöcheln verschnürt, weshalb sie sich kaum bewegen konnte. Sie tastete um sich, ihre Hände berührten Holz, das mit einem feuchten Film überzogen war. Da wurde ihr das gleichmäßige Heben und Senken des Bodens unter ihr bewusst. Oh Gott, sie war in einem Schiffsbauch! Obwohl ihr Kopf schrecklich schmerzte, öffnete sie vorsichtig die Augen einen Spaltbreit, blinzelte. Trotz des vorherrschenden Zwielichts, bestätigten die vagen Schemen ihrer Umgebung, was sie in ihrem Inneren schon befürchtet hatte. Grauen überwältigte sie. Ihre schlimmsten Albträume waren zum Leben erwacht. Ihrer Freiheit beraubt, hatten sie skrupellose Barbaren wie ein Stück Holz in den Bauch eines arabischen Sklavenschiffs geworfen. Das Entsetzten über ihre ausweglose Lage lähmte sie und sie kämpfte gegen die aufsteigende Ohnmacht, rang nach Luft. Zugleich biss sie die Zähne zusammen, damit sie nicht vor Angst klapperten. Erzählungen von Plünderungsfahrten der Araber, welche auf brutalste Art und Weise auf Menschenfang gingen, durchpflügten ihren gepeinigten Sinn. Bilder von an schwere Ketten geschmiedete Sklaven, die in elendslangen Reihen von Männern mit Peitschen angetrieben wurden, vermischten sich in ihrem Kopf mit Berichten vom grauenhaften Treiben auf Sklavenmärkten. Nein! Es durfte nicht wahr sein! So unrealistisch es auch erscheinen mochte, klammerte sie sich dennoch an die letzte Hoffnung: ihre Rettung. Sie wollte nicht aufgeben und sich nicht von der Tatsache, dass es für ein Mädchen wie sie, keinen Ausweg aus dieser Hölle gab, in die Knie zwingen lassen.
Verbissen zwang sie sich dazu, an Zuhause zu denken. An die heiße Sonne, die den Boden austrocknete, bis er aufriss und kleine Schluchten bildete. An die winzigen Blätter des Christusdorns und seine roten Blüten, die kugelförmigen Früchte der Drosselbeeren und die scharfen Felsen der Berge.
Nie würde sie ihren Geburtsort Balchik, den wundervollen Blick auf Küste und Meer sowie ihre Familie vergessen. Sie schwor sich mit der Inbrunst einer Todgeweihten, sich stets daran zu erinnern, wer sie war. Niemand vermochte es, ihr die Vergangenheit zu rauben, die Gewissheit, als freier Mensch geboren zu sein.
Als sich Mila auf den nackten Schiffsplanken trotzig an die letzten Reste ihres Muts klammerte, ahnte sie nicht, wie sehr sie sich darin irrte […]

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